Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

4. Hörerzentrierte Klangforschung

4. Hörerzentrierte Klangforschung

Um von der Aisthetik zur Ästhetik des Hörens überzugehen, ist es naheliegend, dass wir uns zuallererst an die Musikwissenschaft wenden – wobei wir sehen werden, dass sie diesbezüglich heute keinen Alleinvertretungsanspruch mehr erheben kann. 

Die musikwissenschaftliche Forschung hat verschiedene Verfahren des Sprechens über Musik hervorgebracht (vgl. Döhle 2019, S. 98). Dabei hat sie manche der von uns hervorgehobenen Merkmale der Klangwahrnehmung in Kompositionsanalysen nicht nur variantenreich verifiziert, sondern um Einsichten in deren spezifisch ästhetische Formen erweitert. U.a. hat sie den engen Zusammenhang von Musik und Gedächtnis bestätigt und differenziert. In vergleichenden Motivanamnesen kann sie zeigen, wie musikalische Figuren sowohl innerhalb einzelner Werke als auch im Rahmen der Kompositionsgeschichte bemerkenswert häufig wiederholt werden – sei es in gleicher oder veränderter Gestalt (4.1). 

Zugleich hat sie bemerkt, dass der ästhetische Reiz beim Musikhören nicht allein im Wiedererkennen von Gehörtem, sondern in der Spannung zwischen (aus dem musikalischen Gedächtnis gespeisten) Erwartungen und deren Nichterfüllung besteht. Allerdings hat sie sich dabei weniger für die affektiven Aspekte des Phänomens interessiert als für Fragen der ästhetischen Innovation (maßgeblich: Adorno 1938; 1956). Erst die neuere Musikpsychologie widmet sich in systematischer Fokussierung auf das emotionale Erleben von Musik dem Phänomen der "Erwartungsdiskrepanz" (4.2).

Ein der Erwartungsdiskrepanzanalyse verwandter, aber wirkungsästhetisch weiterführender Ansatz, der ebenfalls von außen an die Musikwissenschaft herangetragen wird, ist die musikalische Leerstellenanalyse. Sie überträgt das urspünglich aus der Literaturtheorie stammende Paradigma (Iser 1976), das in jüngster Zeit schon für die Bild- und Filmwissenschaft fruchtbar gemacht werden konnte (vgl. Schriftvorlesung 4.3), auf musikalische Phänomene und ihre erinnerungsaktivierenden Effekte (4.3).

Dass die musikwissenschaftliche Forschung sich mit Klangphänomenen bislang schwer tat, liegt unter anderem daran, dass sie mit einem Notationssystem arbeitet, das sich zwar sehr gut für die Verschriftlichung von Tönen (Tonart, Tonhöhe, Lautstärke, Tempo, Takt etc.) eignet, aber sehr schlecht für die Aufzeichnung von Klangcharakteristika (Stimmlichkeit, Timbre, Plastizität, Farbe, Räumlichkeit etc.). Die Impulse für einen Neuansatz kommen aus dem Untersuchungsgegenstand der Musikwissenschaft selbst: Die musikalischen Avantgarden haben mit ihrer Abkehr von der Tonalität zugunsten der Klanglichkeit und mit ihrer Einbeziehung elektronischer Sounds die Entwicklung neuer Notationsverfahren vorangetrieben (4.4).

Aus dem Bedürfnis nach Überwindung der Defizite, die in den musikwissenschaftlichen Ansätzen zur ästhetischen Analyse von Klängen zutage traten, hat sich mittlerweile eine neue Forschungsrichtung herausgebildet, zu der die Medien- und Kulturwissenschaften maßgeblich beitragen: die Sound Studies (4.5).

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