Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

Historische Anthropologie des Klangs

Die bisherigen Lektionen handelten von der Ästhetik (im doppelten Wortsinn von Wahrnehmung und Gestaltung) des Klangs. Dabei wurde zunächst unberücksichtigt gelassen, dass die von uns zusammengetragenen Befunde historisch und technisch vermittelt sind. Sie geben lediglich wieder, was wir an heutigen Menschen mit heutigen Instrumenten beobachten können. Dass wir solche Befunde nicht einfach als Aussagen über die "Natur" des Hörens schlechthin nehmen dürfen, hatte schon Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit deutlich gemacht:

Innerhalb großer geschichtlicher Zusammenhänge verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. (Benjamin 1936: 478)


Indem wir nun von der Ästhetik zur Medienästhetik des Klangs übergehen, tragen wir der historischen und technischen Vermitteltheit von Klangwahrnehmungen und Klanggestaltungen Rechnung.

Die Lektionen 5–8 stehen unter dem Rubriktitel "Historische Anthropologie des Klangs". Im Unterschied zur Anthropologie (von griech. ánthropos = Mensch und lógos = Wort, Lehre) im naturwissenschaftlichen Verständnis, die nach der biologischen "Natur des Menschen" fragt und dabei unser Gewordensein lediglich unter dem Gesichtspunkt prähistorischer Evolutionsprozesse berücksichtigt, geht die Historische Anthropologie davon aus, dass die Entwicklung der menschlichen Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen auch in geschichtlicher Zeit weiter geht. Dabei betrachtet sie die kulturellen Kontexte, unter denen Menschen leben, die Techniken ihrer Selbsterhaltung und die Medien ihrer Weltaneignung als Umwelten, deren Veränderungen auf ihre "anthropologische Grundausstattung" zurückwirken.

Solche Veränderungen der menschlichen Natur erfolgen freilich nicht von heute auf morgen. Es bedarf dazu – wie schon Benjamin bemerkte, was aber oft übersehen wird – "großer geschichtlicher Zusammenhänge". Die menschlichen Instinkte, z.B. Stressreaktion bei lauten Geräuschen, haben sich in hunderttausenden von Jahren entwickelt und werden nicht schon dadurch grundlegend verändert, dass wir uns seit etwa hundert Jahren an zunehmenden (Unterhaltungs-)Industrielärm gewöhnt haben. Wir haben zwar gelernt, nicht mehr panisch wegzulaufen, wenn es laut wird, ja suchen den Lärm, wenn er aus Discoboxen kommt, oft sogar gerne auf, aber eine physiologische Untersuchung von Gehirnaktivität, Herzschlag, Blutdruck, Hautwiderstand etc. würde gleichwohl die typischen Symptome einer Stressreaktion ausmachen. Kurz: Wir müssen die Historische Anthropologie in mehreren geschichtlichen Ebenen mit unterschiedlicher Veränderungsdynamik denken.

Terminologisch hilfreich ist dabei das Drei-Ebenen-Modell Braudels (1992/1993), das longue durée (= lange Dauer), moyenne durée (=mittlere Dauer) und événement (Ereignis) unterscheidet. Übertragen auf unseren Zusammenhang charakterisiere ich im folgenden
• als longue durée die menschliche Naturgeschichte mit ihren nur sehr allmählichen Veränderungen der menschlicher Klangwahrnehmung in physiologischer, psychologischer und phänomenologischer Hinsicht (Lektion 5–6),
• als moyenne durée die Medienkulturgeschichte, deren Epochen sich durch markante Veränderungen der Techniken der Klangproduktion und die Ausbildung entsprechender Hörgewohnheiten unterscheiden (Lektion 7–8),
• als histoire événementelle die Ereignisgeschichte unserer gegenwärtigen Sound Culture, die sich durch digitale Techniken der Soundproduktion und -rezption auszeichnet und charakteristische mediale Praktiken hervorbringt, deren Effekte so gravierend sind, dass sie nicht nur einen bedeutenden Epochenwandel der Medienkulturgeschichte markieren, sondern auch Anzeichen naturgeschichtlicher Veränderungen hervorbringen – etwa im Sinne bestimmter neuroplastischer Tendenzen (Lektion 9–12).

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