Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

8. Die musikalische Orpheus-Rezeption

8.2 Protagonist der Reformoper (Gluck 1762)

Orphée bittet die Furien um Einlass in die Unterwelt, damit er die Geliebte heraus holen kann:


Da er die Bedingung verletzt, Eurydice nicht anzuschauen, verliert er sie erneut und klagt um Ihren Verlust ("J'ai perdu mon Euridice") – interessanterweise in Dur:

Einschätzungen nach Hevner-Liste u. Juslin-Matrix
(2016: li. Ausdruck, re. Hörempfinden; 2017: Hörempfinden):

8.2 Protagonist der Reformoper (Gluck)

Mit seinem Orfeo reformiert Gluck die Oper, indem er ihren Affektcharakter, den sie zwischenzeitlich in klassizistischer Erstarrung verloren hatte, herausarbeitet.

Man muß sich das hochartifizelle, aber emotionsgebremste musikalische Gedächtnis des 18. Jahrhunderts vor Augen halten, das von der französischen Oper Lullis und Rameaus einerseits und der alten rein italienischen Musik andererseits geprägt war, um die Sprengkraft der Gluckschen Komposition zu ermessen (vgl. Grimm 1977: 355 f.).

Dabei verwendet sie an der entscheidenden Stelle des Schwellenübertritts auch einen Kontrasteffekt, der aber anders als bei Monteverdi, nicht darain besteht, dass Orpheus einem ersten, flehenden Gesang einen zweiten, energisch verzweifelten entgegensetzt. Die Kontrastwirkung beruht vielmehr darauf, dass Orpheus immer sanftere Töne einsetzt und damit die Wächter der Unterwelt schließlich erweicht.

Gluck läßt zu Beginn des 2. Akts Orpheus' melodiöse Trauerklage durch einen martialischen Furienchor abwehren, der ihn zum Verbleib im Diesseits ermahnt.

Das monotone "No" des Furienchors schwächt sich in dem Maße ab, wie Orpheus' Klage eindringlicher wird, es verliert zunächst seinen Grundton, wird polyphon und schließlich zur Begleitharmonie der Orpheus-Klage.

Schließlich fühlen sich die furiosen Jenseitshüter von einem seltsamen „Affetto flebile" – einem ungewohnten Gefühl der Schwäche – durchströmt. "Ein befremdendes, lösendes Zartgefühl sanft überkommt den Sinn", singen die Furien, und das ihnen unbekannte Gefühl des Dahinfließens läßt sie ihre Wächterfunktion schließlich vergessen. Sie öffnen die Tore und ebnen ihm die Schwelle mit den Worten: "Frei und gefahrenlos vor ihm die Straße liegt.

Der Vorwurf der Trivialität, der dem Werk bis heute anhängt (vgl. Adorno 1929: 161 ff.) stützt sich auf dieselben musikalischen Kriterien, die seine Anhänger zu ekstatischen Begeisterungsstürmen hinriß. Von Gluck selbst ist überliefert, daß er seine Operngestalten in „fieberglühendem Mit(er)leben schuf" (Kaden 1995: 12). Rousseau soll auch nach der 40. Aufführung noch geweint haben (nach Finscher 1964: 96 ff.) und Berlioz, der 1866 die beiden Fassungen der Oper zu einer die affekthaften Züge intensivierenden dritten kompilierte, berichtet über das Lesen der Gluckschen Partituren: "Sie raubten mir den Schlaf, ließen mich Essen und Trinken vergessen; ich geriet in Verzückung darüber" (Berlioz 1980: 29).

8.2 Protagonist der Reformoper (Gluck 1762)8.2 Protagonist der Reformoper (Gluck 1762)
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