Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

7. Orpheus: Leitfigur klanginduzierter Enstase

7.2 Der Sektengründer

O.s' Lebensstationen: Aus dem Rhodopengebirge
in Thrakien (heute Bulgarien) stammend, zog er
als Sektenoberhaupt durch Makedonien und Thessalien.

          Orpheus und die Tiere. Mosaik aus Milet (ca. 180 n. Chr.).
          Archäologisches Museum Antakya.
          Quelle: http://www.hpgrumpe.de

7.2 Der Sektengründer

Orpheus stammt aus Thrakien, dessen Zentrum dort lag, wo heute Bulgarien ist, sich aber weit ausbreitete, insbesondere nach Norden. Seine genauere Herkunft ist das Rhodopen-Gebirge, weshalb er auch "der Rhodopier" genannt wurde. Abbildungen zeigen ihn häufig mit "phrygischer Mütze", einer ursprünglich aus Tierhoden angefertigten Kopfbedeckung, die nach naturreligiöser Ãœberlieferung die Einheit von Mensch und Tier symbolisierte. 

Schon im ersten Dokument, das seinen Namen erwähnt, einem Fragment von Simonides, wird Orpheus als ein Sänger charakterisiert, der nicht nur Menschen, sondern die gesamte lebende und unbelebte Natur in seinen Bann zog, selbstvergessen in buchstäblicher "Hörigkeit":

Ihm auch in endloser Zahl
Schwebten Vögel überm Haupt, in die Höh
Sich emporschnellend, sprangen Fische heraus
Aus blauschwarzem Wasser bei dem schönen Gesange.

     (Simonides/ Bakchylides 1969: Fr. 31)

Die Tiere zu Orpheus kommen, folgen nicht einfach ihrer animalischen Natur, sondern es wird etwas in ihnen berührt, das sie den Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden buchstäblich vergessen lässt: „die Schlange“ etwa, heißt es bei Seneca, „flieht ihr Versteck, für einmal ihr Gift vergessend“.

Die Wirkung seines Gesangs wird immer wieder als hypnotisierend beschrieben. So zum Beispiel, wenn es die streitbaren Argonauten, ohne daß diese wissen, wie ihnen geschieht, friedlich stimmt und schließlich in den Schlaf (griech: hypnos) fallen lässt. (Apollonius Rhodius. Argonautika. I, 514 ff.)

Orpheus gilt also als ein besonderer Friedensstifter, der mit seiner Stimme den "Einklang" der gesamten Natur herbeizuführen vermag. Aus diesen Zuschreibungen entstehen spätestens im 5. vorchristlichen Jahrhundert (aber vermutlich noch viel früher) religiöse Sekten in seinem Namen: die "Orphiker". In Orpheus Heimat Thrakien treffen sie zunächst auf ein Umfeld, das ihre Missionstätigkeit besonders nötig hat. Die Thraker werden von den Griechen als verwilderte Barbaren von zerzaustem Aussehen beschrieben, die exzessiv trinken und ständig Streit suchen, ja sogar als Menschenfresser. Archilochos verwünschte einen Freund: „Schiffbruch soll er erleiden und in Salmydessa sollen ihn die Thraker holen … mit struppigem Schopf“. „Er trinkt wie ein Thraker“ war ein beliebter abfälliger Spruch. So galt den Griechen auch Dionysos, der Gott des Weines, als thrakisch.

Indem die Orphiker also dem wilden Gebaren der Thraker eine "enstatische" statt "ekstatische", d.h. nach innen, nicht nach außen gerichtete Haltung entgegensetzten, die sie auf den Sohn Apolls zurückführten, waren sie konvertierte Dissidenten gegenüber der dionysischen Kultur ihrer Landsleute.

Sie breiteten sich bald schon in weiten Teilen Griechenlands, den griechischen Kolonien in Italien und an der Schwarzmeerküste aus. Dabei entwickelten die verschiedenen Gruppierungen unterchiedliche Denkweisen und Rituale, was sich in der Heterogenität der unter dem Sammelnamen "Orphik" gefassten Hymnen und Schriften niederschlägt. Das sektiererische Gebaren dieser Gruppierungen war griechischen Philosophen wie Platon teilweise suspekt – so wie heute dasjenige, was in Esoterikerkreisen als "Schamanismus" verbrämt wird, suspekt erscheinen muss.

 

 

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