Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

7. Der Orpheus-Mythos und die Orphik

0.2 Welches Narrativ charakterisiert die Kulturbedeutung des Phänomens 'Klang'?

 Ovid: Metamorphosen, Buch X

Hermes, Eurydike, Orpheus beim Gang durch die Unterwelt. Nachbildung eines Grabplattenreliefs aus dem späten 5. Jh. v. Chr. Louvre Ma 854.
Quelle: http://www.perseus.tufts.edu/cgi-bin/image?lookup=1992.04.0429&type=sculpture

0.2 Welches Narrativ charakterisiert die Kulturbedeutung des Phänomens 'Klang'?

Die Kenntnis der Wortherkunft ist notwendig, aber natürlich nicht hinreichend, um die Kulturbedeutung eines Begriffs zu bestimmen. Ihren Sinn erhalten Worte erst im Sprachgebrauch. Und wenn es sich um Phänomene handelt, die einen prominenten Sitz im menschlichen Leben haben, finden wir sie meist eingebettet in tradierte Erzählmotive, die sie charakterisieren – und zwar Motive, die jenseits ihrer historischen Konkretisierungen im Kern gleich bleiben. Die Erzähltheorie (vgl. Genette 1998) spricht in diesem Zusammenhang von Narrativen zweiter Ordnung. 

Ein solches Narrativ müssen wir in Bezug auf das Phänomen Klang nicht lange suchen: Es ist der Mythos von Orpheus. Wie kaum eine andere Erzählung steht er für das enorme, buchstäblich exorbitante, Wirkungspotential von Klängen. Den antiken Überlieferungen zufolge vermochte der thrakische Sänger mit seinem Leierspiel die gesamte Natur zu bezaubern und sogar die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden, indem er so herzerweichend den Tod seiner Gattin Eurydike beklagte, dass die Hüter der Unterwelt sich ausnahmsweise erbarmten und ihm erlaubten, die Geliebte aus dem Schattenreich herauszuführen. Wenn immer in der Kulturgeschichte auf besondere, die Alltagswahrnehmung transzendierende Klangwirkungen hingewiesen wird, geschieht dies meist unter Berufung auf Orpheus.

Wir werden im historischen Teil dieser Vorlesung auf Orpheus und seine reichhaltige musikalische Rezeptionsgeschichte zurückkommen. Aber schon der erste Teil der Vorlesung lässt sich aus dem Narrativ ableiten In der mythischen Ãœberlieferung – wie in dem hier zitierten Text von Ovid – wird die Passage durchs  Schattenreich an ein Sehverbot geknüpft: Die Hüter der Unterwelt verlangen von Orpheus, "dass er die Augen zurück nicht wendete", werden wir im ersten Teil der Vorlesung ergründen, in dem es um die Spezifika der auditiven im Unterschied zur visuellen Wahrnehmung geht. Der dritte Teil wird schließlich von den Tranformationen handeln, die das Klang-Narrativ in der heutigen Medienkultur erfährt. Hierzu vorab eine vergleichende Hörprobe ...

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