Peter Matussek

Historische Anthropologie der Animationstechnik

0. Einführung

0.1 Der Mythos von Pygmalion (Ovid: Metamorphosen, Buch X, Vers 247–288)

Weißes Elfenbein schnitzte indes er mit glücklicher Kunst und
gab ihm eine Gestalt, wie sie nie ein geborenes Weib kann
haben, und ward von Liebe zum eigenen Werke ergriffen.
Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe,
wolle sich regen, wenn die Scham es nicht ihr verböte. [...]
Sie schien zu erwarmen.

 

Wieder nähert den Mund er, betastet die Brust mit der Hand,
da wird das betastete Elfenbein weich, verliert seine Starrheit,
gibt seinen Fingern nach und weicht, wie hymmettisches
Wachs im Strahl der Sonne erweicht, von den Fingen geknetet,
zu vielen Formen sich fügt und, gerade genutzt, seinen Nutzen
bekundet. Während der Liebende staunt, sich zweifelnd freut,
sich zu täuschen fürchtet, prüft mit der Hand sein Verlangen er
wieder und wieder.

Abb.: Les Metamorphoses dOvide; Paris 1619, S. 283.
Quelle: Dörrie (1974), Abb. 4.

0.1 Der Mythos von Pygmalion (Ovid: Metamorphosen, Buch X, Vers 247–288)

Schon immer waren Menschen versucht, tote Materie als lebendig erscheinen zu lassen. Die Kulturhistoriker sprechen hierbei von "Animismus" – abgeleitet von dem lateinischen Wort anima = Seele. Der Begriff der Animation, den wir heute insbesondere in der digitalen Tricktechnik verwenden, geht auf diese Ursprungsbedeutung zurück.

Der römische Schriftsteller Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) hat in seinem Versepos Metamorphosen verschiedene mythische Überlieferungen solcher Animationsversuche zu einer Erzählung zusammengefasst: Der zypriotische Bildhauer Pygmalion soll sich demnach, enttäuscht von den realen Frauen, eine Wunschfrau aus Elfenbein geschnitzt und sich in sein Werk verliebt haben. Unter seinen Liebkosungen und mit Hilfe der Liebesgöttin Venus soll die Statue schließlich lebendig geworden sein und ihm sogar Kinder geboren haben.

Wir kommen später auf diesen Mythos noch ausführlich zurück (Lektion 6).

Zunächst sollten wir uns klarmachen, worin die Verbindung zur heutigen Animationstechnik besteht, und wo die Differenzen liegen ...

0.1. Die Urszene der Animation: Pygmalion0.1. Die Urszene der Animation: Pygmalion
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