7.3 Die performative Wende des kulturellen Gedächtnisses
7.3 Die performative Wende des kulturellen Gedächtnisses
7.3 Die performative Wende des kulturellen Gedächtnisses
Denn ganz allgemein vollzieht sich im 16. Jahrhundert eine Veränderung des Animationsbegriffs, der durch eine Aufwertung äußerer Bewegung und einen Abbau der Schamschwelle charakterisiert ist.
Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, vollzieht sich die "Wiedergeburt" der Antike im Zeitraum zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert nicht als Rekurs auf die Originalquellen, sondern vermittelt durch zeitgenössiche philosophische Strömungen, die die Autonomie des handelnden Subjekts betonen. Diese philosophischen Strömungen lassen sich unter dem Begriff "Neuplatonismus" zusammenfassen: eine Erneuerung Platons, die sich von diesem durch eine stärkere Orientierung an der subjektiven Erfahrung und einen stärker empirisch gefassten Lebensbegriff auszeichnet. Diesen findet der Neuplatonismus in der antiken Vorstellung vom "Seelenhauch", dem "Pneuma".Corpus Hermeticum So heißt es im der grundlegenden Schrift des Neuplatonismus:
"Das Pneuma durchdringt das Blut und die Venen und Arterien und bewegt so das Lebewesen." (I, 107)
"Animation" wird hier also nicht aus Platons Vorstellung von einem unbewegten Beweger hergeleitet, die in der schamhaft erstarrten Aphroditenstatue zu repräsentieren wäre, sondern bedeutete im neuplatonischen Kontext Beseelung toter Materie durch das Einhauchen von Lebensenergie, was mit einer auch äußerlichen Dynamisierung einhergeht.
Diese Dynamisierung des Lebenskonzepts und mit ihm der Lebenswelt drückte sich auch in einem Wandel der Darstellungsformen kulturellen Wissens aus. Die metaphysische Grundvorstellung der Epoche, dass der Mensch als Mikrokosmos in einen Makrokosmos eingelassen ist, wurde nicht als statisch und durch den göttlichen Schöpfungsplan invariant festgelegt begriffen, sondern als performatives theatrum mundi.
Wenn wir uns die enzyklopädische Literatur der Zeit ansehen, finden wir als Buchtitel fast immer den Begriff des Theaters. In einigen Fällen wird das theatrum aber nicht nur metaphorisch verwendet, sondern buchstäblich realisiert. So insbesondere bei Giulio Camillo (1480–1544), der ein "Theatrum della memoria" tatsächlich gebaut hat - als begehbaren Holzbau im architektonischen Stil des vitruvianischen Theaters, in dem zwei Personen aufrecht stehen konnten.
Dieser Bau, den Camillo zweimal angefertigt hat, ist verbrannt, aber wir können aus seienr Beschreibung zumindest die Funktionsprinzipien ableiten: Das Halbrund der Zuschauerränge wurde dabei in sieben Stufen und sieben Segemente eingeteilt. Auf den so entstandenen 49 Plätzen wurden Gedächtnisbilder platziert, die als imagines agentes im Sinne der römischen ars memoria fungierten. Anders aber als in der antiken rhetorischen Tradition standen die Gedächtnisbilder hier nicht für sich, sondern ihr jeweiliger Sinn ergab sich erst durch Kombinationen untereinander.
Der Besucher des Gedächtnistheaters sollte sich also nicht einfach die Merkbilder einprägen, sondern er sollte selbst geistig aktiv werden. Und da die Bilder alle allegorisch verschlüsselt waren und nur durch eigene Kombinationsleistungen ihren Sinn bekamen, dienten sie als Medium der Selbsterfahrung und Selbsttransformation.
Giulio Camillo schreibt unter Anspielung auf die imagines agentes, er beabsichtige,
"eine Ordnung […] zu finden, die den Geist aufmerksam erhält und das Gedächtnis erschüttert (la memoria percossa)".
Wie sehr diese kombinatorischen Animationstechniken der frühneuzeitlichen Gedächtnistheatersysteme die Phantasien ihrer Benutzer entfesselten, zeigt sich unter anderem an der harschen Kritik, die ihnen entgegengebracht wurden. So polemisierte William Perkins gegen Alexander Dicson, der eine "animatio" der Gedächtnisbilder gefordert hatte, mit den Worten:
"Die Belebung der Bilder, die der Schlüssel des Gedächtnisses ist, ist gottlos; denn sie erweckt absurde, unverschämte, gewaltige Gedanken, die lasterhafte fleischliche Affekte anreizen und entflammen" (Übers. nach Yates 1966, 254 – Hv. PM).
Das ist eine deutliche Veränderung des Animationsbegriffs gegenüber der Antike. Der Abbau der Schamschwellle, wie ihn das Zitat kritisiert, geht offenbar einher mit einer Hinwendung zum bewegten Bild.