Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

4. Lektürezentrierte Texttheorien

4.2 Unbestimmtheitsstellen (Ingarden)

"Das literarische Werk und insbesondere das literarische Kunstwerk, ist ein schematisches Gebilde. […] Mindestens eine seiner Schichten, und besonders die gegenständliche Schicht, enthalten in sich eine Reihe von 'Unbestimmtheitsstellen'. Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man aufgrund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht. Wenn etwa in den 'Buddenbrooks' die Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook nicht erwähnt wäre (was ich nicht nachgeprüft habe), dann wäre er in dieser Hinsicht überhaupt nicht bestimmt, obwohl zugleich aufgrund des Kontextes und der Tatsache, dass er irgendeine Augenfarbe haben musste; nur welche, das wäre nicht entschieden. Analog in vielen anderen Fällen. Die Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstandes, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist, nenne ich eine 'Unbestimmtheitsstelle'. […] Dieses ergänzende Bestimmen nenne ich das 'Konkretisieren' der dargestellten Gegenstände. Darin kommt die eigene, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers zu Wort: aus eigener Initiative und Einbildungskraft 'füllt' er verschiedene Unbestimmtheitsstellen mit Momenten 'aus', die sozusagen aus vielen möglichen bzw. zulässigen gewählt werden, obwohl letzteres […] nicht notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese 'Wahl' ohne bewusste und für sich gefasste Absicht des Lesers. Er lässt einfach seine Phantasie frei walten und ergänzt die betreffenden Gegenstände durch eine Reihe neuer Momente, so dass sie voll bestimmt zu sein scheinen." 

(Ingarden 1968, S. 49 u. 52)

4.2 Unbestimmtheitsstellen (Ingarden)

Den Begriff der "Unbestimmtheitsstellen" prägte Ingarden in seinem Hauptwerk  Das literarische Kunstwerk (1931).

Welcher Art die Konkretisationen von Unbestimmtheitsstellen jeweils sind, obliegt nach Ingarden auschließlich dem Leser; sie findet in den Texten keine Berechtigung. Aus einer Kritik dieses Gedankens entwickelt Wolfgang Iser später seinen Begriff der "Leerstelle" (4.3).

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