Die Synopse (griech.: "Zusammenschau") verdeutlicht, wie radikal sich das Überlieferungsgeschehen in Griechenland beim Übergang von der Oralität zur Literalität, d.h. von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, wandelt:
Während der Seevölkerkriege (vgl. 6.5.3) brach die Schrifttradition in Griechenland ab. Das kulturelle Wissen wurde über Jahrhunderte nur mündlich weitergegeben, durch Sänger wie Homer. Um 850 dann gibt es wieder einen Schriftgebrauch – nun sehr viel umfangreicher als in der Zeit der Palastkulturen und mit einem sehr viel effizienteren Schriftsystem: dem phönizischen Alphabet, das die Griechen sich, geringfügig abgewandelt, aufgrund von Handelsbeziehungen aneigneten.
Bemerkenswert ist, wie mit der Schrifteinführung in kurzer Zeit eine Vielzahl verschiedener philosophischer Lehrmeinungen entstand. Offenbar hat die (Wieder-)Einführung der Schrift eine Vermehrung heterogener Standpunkte befördert, während der Inhalt der mündlich überlieferten Mythen über Jahrhunderte hinweg konstant blieb.
Wie wir außerdem sehen, steht Platon, dessen Schriftkritik wir uns nun zuwenden, noch inmitten dieser Zeit des Übergangs von der Oralität zur Literalität: Als er geboren wurde, war in Athen gerade erst der Schulunterricht im Lesen und Schreiben eingeführt worden.