6.4 Die antike Schamkultur: Rom

Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion (1606)
Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion (1606)
6.4 Die antike Schamkultur: Rom
Unabhängig vom Streit zwischen Elias und Dürr lässt sich eindeutig feststellen, dass die Römer eine höhere Schamschwelle hatten als die Griechen.
Insbesondere zu Lebzeiten Ovids galten strenge Sitten. Zwar konnte Ovid, der mehrfach die Ehefrau wechselte, eine ars amatoria schreiben, einen Ratgeber zur Verführung des anderen Geschlechts. Auch war er ein gern gesehener Gast auf den ausschweifenden Festen Iulias, der Enkelin von Kaiser Augustus. Doch bald wurde dem Kaiser das Treiben zu bunt: Im Jahre 8 unserer Zeitrechnung, als die Metamorphosen gerade erschienen waren, wurden Ovid und Iulia in die Verbannung geschickt – freilich an verschiedene Orte. Genaueres wurde dem Dichter über die Gründe nicht mitgeteilt. Er selbst vermutete aber, dass das Motiv zum einen seine freizügige ars amatoria war, und zum anderen, dass er "etwas sah, was er nicht sehen sollte". In der Forschung wird spekultiert, dass er in eine Ehebruchsaffäre Iulias verstrickt war.
Ovids Verbannung ist auch deshalb tragisch zu nennen, weil die ars amatoria schon einige Jahre zurücklag, während die Metamorphosen, sein aktuelles Werk, durchaus schamhaft war. So hatte Ovid z. B. in die Orpheus-Legende das Verbot eingebaut, nach der Geliebten "begierig zu schauen" ("avidusque videndi"). In seiner Schilderung des Mythos von Diana und Acteion reagiert die Göttin der Jagd und Beschützerin der Jungfräulichkeit mit tiefem Erröten und heftiger Bestrafung auf den sie beim Bade heimlich beobachtenden Jüngling. Und in der Pygmalion-Geschichte findet, wie wir sahen, eine explizite Abkehr von den "schamlosen Frauen" statt. Zu spät offenbar.