6.2 Das Bildmotiv der 'Venus pudica'

Pierre Firens: Pygmalion und die Propoetiden (1619)

Links: Praxiteles: "Capitolinische Venus" (4. Jh. v. Chr.)
Rechts: Kleomenes: "Venus Medici" (1. Jh. v. Chr.)
Pierre Firens: Pygmalion und die Propoetiden (1619)
Links: Praxiteles: "Capitolinische Venus" (4. Jh. v. Chr.)
Rechts: Kleomenes: "Venus Medici" (1. Jh. v. Chr.)
6.2 Das Bildmotiv der 'Venus pudica'
An Ovids Erzählung fällt auf, dass es ausgerechnet das Merkmal der Statuenhaftigkeit, die starre Pose ist, worin sich die Beseeltheit ausdrückt. Die Erklärung für diesen paradoxen Zusammenhang liefert das Phänomen der Scham:
Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe,
wolle sich regen, wenn die Scham es ihr nicht verböte. (V. 250f.)
Diese Sicht auf das Werk wird dramaturgisch vorbereitet durch den Kontrasteffekt des Gegenteils: Die Propoetiden führen – als "Animierdamen" sozusagen – ein äußerlich "bewegtes Leben", sind aber schamlos, und das heißt auch: seelenlos. Als Zeichen dieser Seelenlosigkeit hat Venus sie in Steine verwandelt:
Und, wie dahin ihre Scham, wie kein Blut ihre Wangen mehr rötet,
sind sie – nur wenig gewandelt – zu kalten Steinen geworden. (241f.)
Unfähigkeit zu Erröten, das Merkmal der Schamlosigkeit, wird hier als Zeichen der Seelenlosigkeit genommen, und das läuft nicht nur als Form der Strafe, sondern per se schon ("nur wenig gewandelt") auf Leblosigkeit, auf Versteinerung hinaus.
In genauer Spiegelung hierzu wird nun das Werk Pygmalions beschrieben: Er ist enttäuscht von der Schamlsoigkeit aller wirklichen Frauen und schafft sich als Gegenbild eine Statue, die zwar zunächst leblos und starr erscheint, aber gerade in dieser Erstarrung, weil sie mit Scham erklärt wird, ihr Seelenleben offenbart.
Der zeitgenössische kunsthistorische Bildbezung hierfür ist die dem Kleomenes zugeschriebene "Aphrodite Medici", der klassische Bildtyp einer "Venus pudica" – der schamhaft ihre Blößen bedeckenden Venus. Das Vorbild hierfür ist eine Aphrodite-Skulptur von Praxiteles, die sogenannte "Capitolinische Venus".
Diese oder eine ähnliche Skulptur dürfte Ovid vor Augen gehabt haben, als er die Pygmaliongeschichte schrieb. Indem er just das Merkmal der Statuenhaftigkeit als Zeichen seelischer Regung nimmt, macht er geschickt aus der Not eine Tugend. Zugleich aber trifft er die Moralvorstellungen der Zeit, wenn er eine äußerlich bewegte, aber innerlich leblose Form der Animation einer äußerlich statuarischen, aber beseelten gegenüberstellt.