Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

7. Die griechische Schriftrevolution

7.4 Der Mythos von der Erfindung der Schrift (Phaidros 274e1-275b2)

Thoth mit seinem Schreibzeug (vgl. 5.1) vor dem Sonnengott Re-Harachte, der als Götterkönig thront.
Aus dem Totenbuch der Prinzessin Nestanebteschra (11. Jh. v. Chr.). Pap. Brit. Mus. 10554 Col. 52, 21. Dyn, Theben.

7.4 Der Mythos von der Erfindung der Schrift

Der von Sokrates erzählte Mythos über die Erfindung der Schrift wirkt auf den ersten Blick leicht nachvollziehbar: Wer etwas aufschreibt, um es sich zu merken, übt sein Gedächtnis nicht und wird dadurch vergesslicher. Er verlässt sich auf "äußere Zeichen" anstatt sich "innerlich" zu erinnern (7.4.1).

Doch schon die unterschiedlichen Übersetzungen des Schlüsselsatzes zeigen, wie vieldeutig die Passage ist (7.4.2).

Eine nähere philologische Betrachtung zeigt, dass der angebliche ägyptische Mythos seine eigene Erfindung ist, die griechische Anschauungen auf die altehrwürdige ägyptische Tradition rückprojiziert: Sie sieht Thoth als Hermes (7.4.3).

Hermes aber ist nicht nur der Götterbote, sondern auch der Begleiter in die Unterwelt. Das heißt: Die Domäne von Thoth ist der Tod; die Schrift beginnt da, wo das Leben aufhört (7.4.4).

Im Unterschied zu Sokrates verwendet Platon das "tote" Medium – allerdings so, dass es seine eigene Mortifikationstendenz reflektiert und somit überwindet: durch den Intertextualitätstyp der "Hypolepse" (7.4.5).

Bis heute arbeiten sich die Medientheoretiker an den Paradoxien der Mythenstelle ab. Denn es sind Paradoxien, die mit jedem Medienwechsel erneut auftauchen und ihrer Lösung harren (7.4.6).

Das Frontispiz von Derridas Postkarte zeigt eine Abbildung aus dem 13. Jh., auf der Sokrates schreibt und Platon spricht. Es illustriert damit die kontrafaktische Wahrheit über das Verhältnis von neuen zu alten Medien (7.4.7).

 

 

 

 

 

 

 

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