Peter Matussek

Historische Anthropologie der Schrift

3. Phänomenologie des Lesens

3.2 Natürliches Lesen

Lesen im "Buch der Natur"

"Wenn ich nun aber", versetzte jener, "eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?"
– "Nein, aber es scheint mir ein weitläufiges Alphabet."
– "Enger, als du denkst; man muss es nur kennen lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift, und ich brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, dass ein scharfer Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben."
– Lächelnd versetzte der Freund: "Und doch wird man auch hier deine Lesarten streitig machen." Goethe (1820/29), S.34

3.2 Natürliches Lesen

Der Lektürevorgang beim Menschen ist weit mehr als Buchstabenerkennung. Das kann man sich schon daran klarmachen, dass wir das Wort "lesen" auch in Fällen gebrauchen, wo wir gar keine Buchstaben vor uns haben.

So zum Beispiel in der alten Metapher vom "Buch der Natur", die eine Lesbarkeit der Welt (Blumenberg 1981) vor aller Schrift unterstellt, wie z. B. in dem gezeigten Dialog aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre.

Zur "Schrift" wird für uns mithin alles, was wir für lesbar erklären – etwa, wenn wir von der "Handschrift" eines Täters sprechen, der sich durch bestimmte Tatprofile auszeichnet, oder wenn ein DJ seine Kunst, die Stimmung auf der Tanzfläche aufzugreifen, als "read the audience" beschreibt (#Beleg bei lg#).

 

 

3.2 Natürliches Lesentest
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Fragezeichen