Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

3. Phänomenologie des Hörens

3.2.4 Enharmonische Verwechslung

Beispiel 1:

Ludwig van Beethoven: Sonate c-moll ("Pathétique") für Klavier, op. 13, Takt 133–136. Friedrich Gulda. – Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=2w51H4nhU80

Beispiel 2:

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht (1899). Streichsextett op. 4. Takt 223–229. Daniel Barenboim and Chicago Symphony Orchestra. – Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=RqloMc9mYBM

3.2.4 Enharmonische Verwechslung

Grundtonbezogenheit (3.2.1), Kadenzerwartung (3.2.2) und Leit- bzw. Gleittöne (3.2.3) sind Typen auditiver Schemabildung, die aufgrund kollektiver oder individueller Hörgewohnheiten zu Vereindeutigungen von Mehrdeutigkeiten führen: aus Mehrklängen wird bevorzugt der Grundton herausgehört, ihre Abweichungen von der Grundtonart werden als Spannung empfunden, die Auflösungserwartungen evoziert.

Es gibt aber auch auditive Schemabildungen, die eine spontane Vereindeutigung nachträglich korrigieren.

Wir hatten solche Fälle in der Schriftvorlesung im Zusammenhang mit Protentionen und Retentionen beim Lesen besprochen (vgl. dort 2.2): Die Bedeutungszuweisung eines ambivalenten Wortes (z.B. "Schloss", "Bank" etc.) kann sich im weiteren Verlauf der Lektüre als korrekturbedürftig erweisen (wir glaubten zunächst, ein Türschloss sei gemeint und merken dann, dass es um ein Gebäude geht). Diese Korrekturen können wir so rasch nachträglich vornehmen, dass unser Lesefluss kaum gestört wird.

Ein musikalisches Pendant hierzu ist die "Enharmonische Verwechslung", die von Komponisten gerne genutzt wird, um bruchlos von einer Tonart in eine andere zu wechseln. Auch hier spielt der Wechselbezug von Retention des soeben gehörten und Protention der daraus abgeleiteten Hörerwartung eine wesentliche Rolle.

Die Mehrdeutigkeit und damit Verwechslungsmöglichkeit, um die es hier geht, beruht auf der Harmonik der "temperierten Stimmung", bei der die 12 Halbtonschritte einer Oktave so verteilt werden, dass sie für alle Tonarten gleichermaßen genutzt werden können (während bei der "reinen" Stimmung die Intervalle je nach Tonart leicht differieren).

Die obere Abb. zeigt anhand einer Klaviatur, dass bei der temperierten Stimmung jeder Taste zwei verschiedene Noten zugeordnet werden können, diese aber genau gleich klingen. Wenn man nun jedoch die Einzelnoten in ein harmonisches Gefüge einordnet, etwa durch Akkorde, kann es durchaus zu unterschiedlichen Hörerlebnissen kommen:

Im vorliegenden Beispiel, einer Passage aus Beethovens Klaviersonate "Pathétique" (vgl. de la Motte-Haber 1982: 231), wechselt ("moduliert") der Komponist von der Tonart g-moll nach e-moll. Zu diesem Zweck sorgt er dafür, dass das "Es" in Akkord (1), der sich nach g-moll auflöst, in der Wiederholung des Motivs zum "Dis" wird, so dass die Auflösung nach e-moll ebenso stimmig wirkt (2). "Es" und "Dis" sind identische Töne auf der Klaviatur; sie werden nur anders notiert, um anzuzeigen, dass es sich um verschiedene Tonarten handelt: das "Es" als "E" mit vorangestelltem "♭" (sprich: B), das die Erniedrigung um einen halben Ton anzeigt, und das "Dis" als "D" mit vorangestelltem "♯" (sprich: Kreuz), das die Erhöhung um einen halben Ton anzeigt. Hören kann man den Unterschied also zunächst nicht. Erst nachdem der Auflösungsakkord gespielt wurde, korrigiert sich die auditive Wahrnehmung, die dem Schema "c-moll" gefolgt war, und ersetzt dieses durch das "e-moll"-Schema.

Für die Schemabildung und -umbildung beim Hörvorgang der Enharmonischen Verwechslung ist es unerheblich, ob man Noten lesen kann oder die musikalische Terminologie kennt. Auch wenn wir die Namen der Tonarten nicht kennen, hören wir ihre Unterschiede – und sind entsprechend überrascht, wenn statt der zunächst erwarteten Auflösung ein Akkordwechsel stattfindet, der dennoch den Charakter einer Auflösung hat.

3.2.4 Enharmonische Verwechslung3.2.4 Enharmonische Verwechslung
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