Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

7. Die griechische Schriftrevolution

7.2.1 Platon: Der 7. Brief

[...] Über alle Schriftsteller hierüber, sowohl über die jetzigen wie über die künftigen, welche versichern über die Hauptmaterien meines Studiums Etwas zu wissen, [...] habe ich hier den Satz auszusprechen, jene Schreiber verstehen, nach meinem philosophischen Glaubensbekenntnisse wenigstens, über die Philosophie gar nichts. Es gibt ja von mir einmal über jene Materien keine Schrift und wird auch keine geben. Denn in bestimmten sprachlichen Schul-Ausdrücken darf man sich darüber wie über andre Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn. [...] Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, daß jene Gedanken durch Schrift und durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften, was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben als der Menschheit großes Heil zu bescheren und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt an's Tageslicht zu bringen! Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen für ein Glück, mit Ausnahme von wenigen Auserwählten, von allen jenen nämlich welche im Stande sind auf einen ganz kleinen Wink selbst zu finden. [...] Wer hier dieser Deduktion und Episode über die Erkenntnis-Stufen treu gefolgt ist, der muß dadurch zu folgender Überzeugung gelangen: mag nun Dionys oder ein anderer nieder oder höher Stehende seine Gedanken über die höchsten und wichtigsten Fragen des Universums schriftlich veröffentlicht haben, so ist gewiß, daß er nach meiner philosophischen Grundansicht wenigstens über die Gegenstände worüber er in die Welt hineingeschrieben hat irgend einen gesunden vernünftigen Gedanken nicht besaß, nicht durch Hörung eines Vortrages und auch nicht durch die Erfindung seiner inneren Geistestätigkeit. Denn sonst würde er dieselbe heilige Scheue vor jenen Wahrheiten haben wie ich, und würde sich nicht unterstanden haben dieselben auf so unpassende und unschickliche Weise unter die Menge zu werfen. Für die Schreiberei über solche Wahrheiten hat er gar keine haltbare Entschuldigungsgründe. Will er sie erstlich zu seiner eignen Erinnerung zu Papier gebracht haben, so ist dieser Grund einmal unhaltbar, denn es gibt ja gar keine Gefahr, daß sie jemand vergißt, wenn er sie nur ein Mal in seinem Innern recht erfaßt hat.

7.2.1 Platon: Der 7. Brief

Platons 7. Brief – dessen Authentizität im Unterschied zu anderen, ihm zugeschriebenen Briefen – unbestitten ist, bildet neben dem Dialog Phaidros die zweite Quelle seiner Schriftkritik. Die zitierten Passagen sind nur ein Auszug der von ihm in dem Brief ausführlich vorgetragenen Argumentation. 

Aufgrund des biographischen Charakters der Briefe, in denen der späte Platon von der sonst bei ihm üblichen Dialogform abweicht, wird ihnen besonderes Gewicht beigemessen. So leitet die sogenannte "Tübinger Schule" aus den  schriftkritischen Passagen im 7. Brief die These ab, Platon spreche hier von "ungeschriebenen Lehren" – Lehren also, die er nur mündlich ausgewählten Schülern mitgeteilt habe.

Freilich kann man die Passagen auch anders deuten, nämlich so, dass Platon hier lediglich auf den intrinsischen – aus innerer Aktivität hervorgehenden – Charakter der wahren Erkenntnisgewinnung hindeuten wollte. Diese Deutung wird von dem anderen Werk, in dem Platon seine Schriftkritik zum Ausdruck brachte, gestütz: dem Dialog Phaidros.

7.2.1 Der 7. Brief写作
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