Peter Matussek

Historische Anthropologie der Animationstechnik

6. Die antike Philosophie der Animation

6.1 Ovid: Metamorphosen X, V. 238–297

            Doch des Propoetus Töchter, die frechen, haben der Venus

            Gottheit zu leugnen gewagt. Und dafür habe der Göttin

240      Zorn sie zuerst den Reiz ihre Leiber lassen verkaufen.

            Und, wie dahin ihre Scham, wie kein Blut ihre Wangen mehr rötet,

            sind sie - nur wenig gewandelt - zu kalten Steinen geworden.

            Weil er diese gesehen ihr Leben verbringen in Unzucht,

            weil die Menge der Fehler ihn abstieß, die die Natur dem

245      weiblichen Sinne gegeben, so lebte Pygmalion einsam

            ohne Gemahl und entbehrte gar lange der Lagergenossin.

            Weißes Elfenbein schnitzte indes er mit glücklicher Kunst und

            gab ihm eine Gestalt, wie sie nie ein geborenes Weib kann

            haben, und ward von Liebe zum eigenen Werke ergriffen.

250       Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe,

            wolle sich regen, wenn die Scham es nicht ihr verböte.

            So verbarg sein Können die Kunst. Pygmalion staunt und

            faßt in der Tiefe der Brust die Glut für das Bild eines Leibes.

            Oftmals berührt er sein Werk mit der Hand und versucht, ob es Fleisch, ob

255       Elfenbein sei, und versichert auch dann, kein Elfenbein sei es,

            gibt ihm Küsse, vermeint sie erwidert, spricht an und umfängt es,

            glaubt, seine Finger drücktem dem Fleisch ihres Leibes sich ein und

            fürchtet, es mache der Druck das berührte Glied sich verfärben.

            Schmeichelworte sagt er ihm bald, bald bringt er Geschenke,

260       wie die Mädchen sie lieben, geschliffene Steine und Muscheln,

            kleine Vögelchen auch und tausendfarbige Blumen,

            Lilien, farbige Bälle und die von den Bäumen getropften

            Tränen der Heliostöchter; auch schmückt er den Leib ihr mit Kleidern,

            gibt ihren Fingern den Ring, eine lange Kette dem Halse,

265       zierliche Perlen hangen vom Ohr, auf der Brust ein Geschmeide.

            All das ziert sie, doch war sie auch nackt nicht weniger schön zu

            schauen. Er legt sie so auf die purpurfarbenen Decken,

            nennt sie Genossin des Lagers, er stützt ihren Nacken mit weichen,

            flaumigen Kissen und bettet ihn sanft, als ob er es fühle.

270       Wieder ist da der Tag der Venus, gefeiert im ganzen

            Cypern; das weite Gehörn vergoldet, waren die jungen

            Rinder, im weißen Nacken getroffen, niedergesunken;

            Weihrauch dampfte; Pygmalion trat, nachdem er geopfert,

            hin zum Altar: "Vermögt ihr Götter alles zu geben",

275       bat er schüchtern, "so sei meine Gattin"  'die Elfenbeinjungfrau'

            wagte er nicht und sprach – "meiner elfenbeinernen ähnlich."

            Venus, die goldene, die ihrem Feste zugegen, verstand wohl,

            was mit dem Wunsche gemeint; ein Zeichen der günstigen Gottheit,

            hob sich dreimal die Flamme und trieb in die Luft ihre Spitze.

280       Als er zurückkam, eilt er sogleich zu dem Bild seines Mädchens,

            wirft sich aufs Lager und gibt ihr Küsse. Sie schien zu erwarmen.

            Wieder nähert den Mund er, betastet die Brust mit der Hand, da

            wird das betastete Elfenbein weich, verliert seine Starrheit,

            gibt seinen Fingern nach und weicht, wie hymmettisches Wachs im

285       Strahl der Sonne erweicht, von den Fingen geknetet, zu vielen

            Formen sich fügt und, gerade genutzt, seinen Nutzen bekundet.

            Während der Liebende staunt, sich zweifelnd freut, sich zu täuschen

            fürchtet, prüft mit der Hand sein Verlangen er wieder und wieder.

            Fleisch ist's und Bein! Es pochen vom Finger betastet die Adern.

290       Worte aus voller Brust, mit denen Venus er danke,

            faßt der Paphier da. – Auf den Mund, der endlich ihn nicht mehr

            täuschte, preßt er den seinen. Die Jungfrau fühlte die Küsse,

            und sie errötete, sah, als empor zum Licht sie die scheuen

            Lichter erhob, zugleich mit dem Himmel den liebenden Jüngling.

295       Gnädig ist Venus der Eh, die sie seIbst gestiftet, und als die

            Hörner des Mondes sich neunmal zum vollen Runde vereint, hat

            jene dir Paphos geboren, nach der die Insel benannt ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

          Zitiert nach Ovid (8), S. 371 f.

6.1 Ovid: Metamorphosen X, Pygmalion

Ovids Metamorphosen sind um das Jahr 8 n. Chr. erschienen. Das Werk konstelliert unter dem titelgebenden Leitmotiv der Verwandlung rund 250 Sagen der griechischen und römischen Mythologie in 15 "Büchern" (d. h. Kapiteln). Diese sind alle miteinander verflochten, so dass ein Kontinuum von Übergängen geschaffen wird, das seinerseits als ein Lebensprozess aufgefasst werden kann.

Die Geschichte von Pygmalion aus dem X. Buch ist dem Sänger Orpheus in den Mund gelegt. Ihr geht voraus, dass die Propoetiden, "die ersten öffentlichen Prostituierten des Altertums" (Dinter 1977, S. 17) als Strafe für ihren unsittlichen Lebenswandel von der Liebesgötting Venus in Stein verwandelt wurden. Pygmalion nun, abgestoßen von der Schamlosigkeit der Propoetiden, schnitzt sich aus Elfenbein eine Frau nach seinen Wunschvorstellungen: schön wie keine lebende Frau und schamhaft. Diese verwandelt sich nun umgekehrt von Elfenbein in ein lebendiges Wesen.

Die beiden Überlieferungsstränge des antiken Animationsbegriffs, der theologische und der säkulare, kommen in der Geschichte separiert voneinander vor: Zum einen wird die Animation der Statue darauf zurückgeführt, dass Pygmalion zu Venus betet und diese ihm qua göttlicher Schöpferkraft den Wunsch erfüllt. Zum anderen aber gibt der Text auch deutliche Hinweise darauf, dass die Animation auf menschliche Schöpferkraft, die besondere Kunstfertigkeit Pygmalions, zurückgeht. Diese zeigt sich nicht nur in dem geschaffenen Werk, sondern auch in seiner phantasiebegabten Art, die Statue zu betrachten, seiner Einbildungskraft.

Das die Kunst etwas "als lebend hinstellt", war schon in der griechischen Antike ein selbstverständlich mit ihr assoziiertes Vermögen (#Platon, Phaidros#). Bei Ovid heißt es nun "ars artis..."#

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