| | | Scham- und Schuldgefühle sind unangenehm. Mit ihnen verbindet sich der Wunsch, nicht so gesehen werden oder nicht so gehandelt haben zu wollen. Schon beim bloßen Gedanken an ein unangemessenes, falsches Verhalten kann einem „heiß und kalt“ werden; darum eignen sich Scham und Schuld als Instanzen moralischer und sozialer Kontrolle, die unser Verhalten regulieren. Scham und Schuld verweisen in unterschiedliche Richtungen: während es bei der Scham um die Selbstachtung und den Gesichtsverlust vor anderen geht, richtet sich das Gefühl der Schuld auf die verletzten Rechte der anderen. So könnte man vermuten, dass sich mit Scham kulturell variable Verhaltensmuster verbinden, während Schuld die Geltung universeller Normen voraussetze. In der historisch-ethnologischen Unterscheidung zwischen „Scham- und Schuld- kulturen“ (R. Benedict, E.R. Dodds) werden hingegen beide Phänomene als verschiedene Akzente kultureller Verhaltensmuster interpretiert: in Scham- kulturen ist die Angst vor dem Gesichtsverlust gegenüber anderen stärker ausgeprägt, in Schuldkulturen dominieren die moralischen Maßstäbe des eigenen Gewissens. Ersteres wird mit Bezug auf das antike Griechenland und ostasiatische Gesellschaften gesagt, letzteres vom westlichen Kulturkreis. Das Hauptseminar wird die genannten Phänomene aus moralphilosophischer und kulturhistorischer Perspektive untersuchen. Vom biblischen Sündenfall und der Tragödie des Ödipus bis zu den Entblößungsritualen in Talkshows und dem Streit über die ‚Kollektivschuld’ der Deutschen sollen ausgewählte Beispiele zur Theorie und Praxis von Scham und Schuld diskutiert werden. |