Peter Matussek

Leerstellen als Erinnerungsanlässe. Interkulturelle, intermediale und interdisziplinäre Dimensionen eines literaturwissenschaftlichen Theorems.

 


In: Dogilmunhak, Koreanische Zeitschrift für Germanistik, Bd. 90, H. 2 (2004), S. 73–95.

 

     
 

ZUSAMMENFASSUNG

Der Beitrag gibt ein Beispiel dafür, wie philologische Kompetenz für die Analyse von medienkulturellen Phänomenen fruchtbar gemacht werden kann. Ausgehend von Wolfgang Isers Leerstellentheorem wird nach der Funktionsweise  ästhetischer Erinnerungsanlässe gefragt  – zum einen in systematischer Hinsicht durch einen Vergleich von Schrift, Bild und Klang, zum anderen in historischer Hinsicht durch einen Vergleich analoger und digitaler Medien. Es ergibt sich, daß die ästhetischen Strategien, mit denen traditionellerweise Literatur, bildende Kunst und Musik Leerstellen eröffnen, auf Animationen beruhen, die durch ihre computertechnische Realisierung grundsätzlich nivelliert werden. Folglich bedarf es neuer Verfahren der Leerstellengenerierung, um unter den Bedingungen digitaler Medien die Erinnerung zu aktivieren.

 

Philologische Kompetenz beschränkt sich nicht auf die Arbeit an Texten. Täte sie es, würde sie auch den Texten nicht gerecht werden. Um diese in ihrer Bedeutungsvielfalt zu verstehen, bedarf es einer Berücksichtigung ihrer Zusammenhänge und Wechselwirkungen mit der Medienkultur, in die sie eingelassen sind. Daß es sich so verhält, habe ich in meinem Beitrag Germanistik als Medienkulturwissenschaft im vorliegenden Band programmatisch dargelegt. Wie ein solches Programm umgesetzt werden kann, möchte ich im folgenden anhand eines Beispiels vorführen – eines Beispiels für ein Verfahren, das die Untersuchungsgegenstände mit philologischen Ansätzen daraufhin befragt, inwiefern sie als Medien kultureller Praktiken zu verstehen sind.

Der philologische Ansatz, auf den ich mich dabei stütze, ist das Leerstellen-Theorem, das von Wolfgang Iser in den 1970er Jahren formuliert wurde, [1] dort in der Zwischenzeit in Vergessenheit geriet, und neuerdings eine nachholende Rezeption erfährt – interessanterweise vorwiegend in außerliterarischen Medien- und Wissenschaftsbereichen. Daß damit auch interkulturelle Dimensionen berührt werden, bedarf kaum einer Erwähnung in einem Land, in dem die Lehren von der Leere tief verwurzelt sind. Ich gehe deshalb auf diesen Aspekt nicht näher ein und verweise nur auf die entsprechenden Beiträge zu Goethe und Rilke im vorliegenden Band. Hier soll es vor allem um die interdisziplinären und intermedialen Aspekte des Theorems gehen. Zunächst aber sei der Begriff näher erläutert, den ich im Zusammenhang mit dem der Leerstelle untersuchen möchte: den Begriff des Erinnerungsanlasses.

Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht. Stellvertretend sei nur die einschlägige Studie Das kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann [2] erwähnt (D 01) [3] . Wir wissen inzwischen sehr viel mehr über die Art und Weise, wie verschiedene Kulturen ihr kollektives Gedächtnis ausbilden – sei es in Texten oder Monumenten. Was bei diesen Untersuchungen allerdings etwas zu kurz gekommen ist, das ist die Frage, wie das kollektive Gedächtnis mit der individuellen Erinnerung zusammenhängt. Dieser Zusammenhang wird bei Jan Assmann noch nach dem Modell eines Information Retrieval erläutert. Demzufolge würde unsere Teilhabe am kulturellen Gedächtnis lediglich auf Entnahmen aus einem externen Speicher gesammelter Erinnerungen beruhen. Assmann schreibt: "Worum es hier geht, läßt sich am einfachsten in einer technischen Terminologie beschreiben. […] Das Kommunikationssystem muß einen Außenbereich entwickeln, in den Mitteilungen und Informationen - kultureller Sinn - ausgelagert werden können, sowie Formen der Auslagerung (Kodierung), Speicherung und Wiedereinschaltung ('retrieval' )." [4]

Es handelt sich also um die Basisfunktionen des Computers, die Assmann als Modell für das kulturelle Gedächtnis heranzieht. Demgegenüber regt sich heute Skepsis. Denn würde das kulturelle Gedächtnis so funktionieren wie ein Computerspeicher, dann müßte es uns äußerlich bleiben, da es nicht mit dem individuellen Erleben in Verbindung stünde. Genau dieses Problem wird ja in Deutschland aus gegebenem Anlaß viel diskutiert, z.B. in der "Mahnmalsdebatte" und der "Walser-Debatte" (D 02). Stichwörter dieser Debatten, wie "Kranzabwurfstelle" oder "Auschwitzkeule" signalisieren, daß die an sich berechtigten und notwendigen Gedenkgebote oft als äußerlich empfunden werden, wenn sie nicht mit der persönlichen Situation zusammengeschlossen werden. Die Frage lautet also: Wie kann das Individuum eine Chance bekommen, sich mit seiner eigenen lebensweltlichen Erfahrung einzubringen in den Prozeß der Aneignung und produktiven Ausgestaltung des kulturellen Gedächtnisses?

Die Neurowissenschaften, die ebenfalls riesige Fortschritte im letzten Jahrzehnt machten, haben uns mittlerweile darüber aufgeklärt, daß auch die individuelle Erinnerung nicht ein Speicherabruf, sondern ein konstruktiver Prozeß ist, bei dem Vergangenes je nach der aktuellen persönlichen Situation neu imaginiert und inszeniert wird. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von "Konfabulation", d.h. davon, daß der momentane Lebenskontext mitwirkt an der Erzählung des Vergangenen. Es wird also immer auch die Vergangenheit von uns neu zur Aufführung gebracht, neu performiert, je nach Maßgabe aktueller Befindlichkeiten. Umgekehrt kann die persönlich erlebte Vergangenheit die Gegenwart imaginativ überformen. Alfred Hitchcock hat das eindringlich in Vertigo umgesetzt – einem Film, in dem sich ein Mann, der den Verlust seiner Geliebten nicht verschmerzt hat, eine andere nach seinem Erinnerungsbild umgestaltet, also die Vergangenheit entsprechend seinen aktuellen Bedürfnissen re-inszeniert (D 03).

Mit dem neurowissenschaftlichen Paradigmenwechsel vom Speicher- zum Performanzmodell wurde ein Forscher wiederentdeckt, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts publizierte, aber zwischendurch in Vergessenheit geraten war: der Biologe Richard Semon. Daniel Schacter, ein führender Vertreter der performativen Wende in der Neurowissenschaft, nennt ihn einen "neglected pioneer" [5]   (D 04). Denn Semon prägte nicht nur den Begriff des "Engramms", der die Einschreibung von Gedächtnisspuren in den individuellen Organismus bezeichnet, sondern auch einen Gegenbegriff hierzu, der sich vom Modell der Wiedereinschaltung signifikant unterscheidet: die "Ekphorie". Damit ist eine Reaktivierung von Gedächtnisspuren gemeint, die sich als Erregungsdisposition latent im Organismus erhalten haben. Diese Reaktivierung ist per defnitionem keine 1:1-Wiederholung eines Gedächtnisinhalts, sondern verbindet je nach Ähnlichkeit der Sinnesstimuli die aktuelle und die vergangene energetische Situation des Erinnernden (a). [6]

Semons Erinnerungsmodell ist auch für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung interessant, da es der Dynamik des geschichtlichen Lebens näher kommt als das Modell von Speicherung und Wiedereinschaltung.  Schon Aby Warburg hatte das erkannt und den Versuch gemacht, sein Mnemosyne-Projekt auf Semons Begriff der Ekphorie zu stützen. Er sprach in diesem Zusammenhang von der "Energiekonserve Symbol" [7] . Diese Energiekonserve zu öffnen, hieß für Warburg nicht, invariante Gedächtnisinhalte abzurufen, sondern – ganz im Sinne Semons – den energetisch-dynamischen, in "Pathosformeln" aufbewahrten "Prozeß […] der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte" [8]   nacherlebbar zu machen. Dies tat er insbesondere durch das Verfahren der Konstellation von untereinander ähnlichen Bildmotiven (D 05). Der Betrachter sollte durch derartige Ähnlichkeitsbeziehungen dazu gebracht werden, buchstäblich am eigenen Leibe nachzuvollziehen, wie sich energetische Muster, als Gesten, in der Bildgeschichte wiederholen und so die eigene Teilhabe an diesem Prozeß erfahren.

Was aber bei Semon wie bei Warburg unklar blieb, ist die Rolle der individuellen Vorstellung bei der Ekphorierung des Vergangenen. Wie muß der ästhetische Stimulus beschaffen sein, der ein Individuum veranlaßt, auf mediale Präsentationen des kulturellen Gedächtnisses mit eigener, imaginativer Erinnerungsaktivität zu reagieren? Welche Wahrnehmungsformen gestatten es dem Einzelnen, sich authentisch angesprochen zu fühlen, so daß er sich in eine Erinnerungskultur mit seiner persönlichen Situation und Erfahrung einbringen kann?

Ich glaube, daß die Literaturwissenschaft zur Klärung dieser Schlüsselfrage der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung einen wesentlichen, bisher in dieser Funktion kaum beachteten Beitrag leisten kann, wenn sie das Leerstellentheorem Wolfgang Isers in einem erweiterten Verständnis zur Anwendung bringt. Für eine solche Erweiterung gibt es bereits Vorreiter: Was Iser in den 1970er Jahren in bezug auf literale Gegenstände formulierte, hat in der jüngsten Wissenschaftsgeschichte auch auf andere Bereiche der Medienkultur  Anwendung gefunden – explizit in der Kunstgeschichte [9] und der Filmtheorie, [10] implizit in der Musikphilosophie [11] und der Theorie der Neuen Medien [12] .

Das neuerwachte und verbreiterte Interesse an diesem Theorem läßt sich damit erklären, daß es auf die aktuelle Frage nach der Vermittlung zwischen individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis eine differenzierte Antwort zu geben vermag: Iser beschrieb die Struktur der literarischen Leerstelle als "Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers" [13] . Es gibt also offenbar Textkonstruktionen, die so beschaffen sind, daß sie nicht einfach die aufgezeichneten Bedeutungen repräsentieren, sondern in ihrem Gefüge Öffnungen aufweisen, die den Leser anregen, "zwischen den Zeilen" zu lesen und es ihm so gestatten, seine individuelle Imagination in das Gelesene einzubringen. Damit wird uns ein Modell geliefert, nach dem auch hinsichtlich anderer Medien des kulturellen Gedächtnisses die Vermittlung mit dem individuellen Erinnern funktionieren könnte.

Iser hat diese Generalisierung nicht selbst vorgenommen. Er bezog das Phänomen der Leerstelle ausschließlich auf die moderne Literatur, den polyperspektivischen Roman. Doch ich möchte im folgenden  zeigen, daß wir ähnliche Sachverhalte in der Schriftrezeption allgemein und darüber hinaus auch in anderen Formen medialer Wahrnehmung, Bild und Klang, vorfinden.  Parallel mit dieser systematischen Frage möchte ich zugleich die historische Frage erörtern, ob im Übergang von analogen zu digitalen Medien grundlegende Änderungen zu registrieren sind.

Bleiben wir also zunächst bei der Schrift, um die drei Grundfragen zu erörtern: Wie funktionieren Leerstellen in diesem Medium? Wie manifestieren sie sich historisch? Und inwieweit ändert sich ihre Funktionsweise durch den Übergang zum elektronischen Schreiben?

 

1. Literale Leerstellen

Die "Besetzbarkeit" einer Schriftstelle ist nicht erst durch ihre Literarizität gegeben, sondern bereits auf der Ebene der schieren Buchstabenerkennung. Schon in der Natur des Lesevorgangs ist es begründet, daß Texte uns zur Ergänzung von Leerstellen veranlassen. Durch neue Verfahren der Blickaufzeichnung (D 06) läßt sich sehr genau registrieren, daß unsere Augen in sogenannten Saccaden von einer Textstelle zur nächsten springen, wobei die Zwischenräume spontan mit Erinnerungsbildern ausgefüllt werden (D 07). Diese Ergänzungsleistungen können deshalb je nach persönlicher Situation des Rezipienten zu signifikanten Lesefehlern führen – so etwa, wenn eine studentische Hilfskraft beim Eintrag einer Warburg-Monographie in unsere Literaturdatenbank statt "Nachleben" der Antike "Nachtleben" tippt und damit verrät, wo ihre Gedanken sind.

Zu ähnlichen Befunden führten schon die Versuche von Goldscheider und Müller 1893 – und zwar mit Tachistoskop-Experimenten: Je nach dem Grad der Ähnlichkeit der kurz präsentierten Zeichengruppen war die Wiedererkennungsrate der Probanden höher oder niedriger (D 08). Daraus läßt sich schließen, daß beim Lesen nicht die genauen Formen der Buchstaben erfaßt werden, sondern nur deren ungefähre Umrisse; der Rest wird nach Möglichkeit mit Erinnerungen an Bekanntes aufgefüllt. Henri Bergson hat aus dieser Beobachtung weitreichende Konsequenzen für seinen Begriff einer imaginativen Erinnerung gezogen (D 09). Er folgerte, "daß fließendes Lesen in Wahrheit ein Erahnen ist: unser Geist erfaßt da und dort schnell ein paar charakteristische Züge; den ganzen Zwischenraum füllt er mit Erinnerungsbildern aus, die er auf das Papier projiziert, wo sie die wirklichen gedruckten Buchstaben verdrängen, ersetzen, ja zu sein scheinen. So sind wir unaufhörlich schaffend oder rekonstruierend tätig." [14]

Freilich ist das nur eine Analogie zu dem Modell von Wolfgang Iser. Isers "Leerstellen" beziehen sich nicht auf das buchstäbliche Schriftbild, nicht auf physiologische, sondern interpretatorische Vakuolen, die hermeneutische Kombinations- und Ergänzungsleistungen veranlassen. Daß diese aber nicht erst mit der Polyperspektivik des modernen Romans auftauchen, sondern zu den ältesten literarischen Verfahren überhaupt gehören, möchte ich an einem Autor zeigen, den der Altphilologe Wilamowitz-Moellendorff als "ersten echten Schriftsteller der griechischen Antike" [15] bezeichnete, der aber zugleich immer wieder als radikaler Schriftgegener herangezogen wird: nämlich Platon. In unserem Zusammenhang interessiert besonders dessen Dialog Phaidros, der von der ambivalenten Stellung der Schrift zwischen Erinnerung und Vergessen handelt. Ich werde deshalb kurz auf diesen Dialog eingehen und zunächst etwas zum historischen Kontext sagen.

Platons Phaidros reflektiert den in Griechenland gerade erst vollzogenen Übergang von der Oralität zur Literalität (D 10). Die Forschung zu diesem Übergang ist es, die ganz maßgeblich zur Entstehung der modernen Medientheorie geführt hat. Milman Parry war es in den 1920er Jahren gelungen, den empirischen Nachweis für eine These zu erbringen, die seit August Wilhelm Schlegel immer wieder nur als Vermutung vorgebracht werden konnte: nämlich daß die homerischen Epen ursprünglich kein schriftstellerisches Werk seien, sondern dazu bestimmt waren, gesungen, also mündlich überliefert zu werden. Anhand von Feldstudien bei den jugoslawischen Guslaren, die seinerzeit als letzte lebende Epensänger galten, zeigte Parry, daß charakteristische Stilmerkmale der homerischen Epen (formelhafte Wiederholungen, Rhythmik etc.) primär die Funktion hatten, besser im Gedächtnis behalten werden zu können – also nicht auf literarischen Formwillen, sondern die Erfordernisse einer oralen Mnemotechnik zurückgingen. [16]

Parrys Beobachtungen sind vor allem durch die Veröffentlichung seines Schülers Albert B. Lord aus dem Jahre 1960 bekannt geworden. [17] Geradezu schlagartig erschienen in den folgenden Jahren eine Reihe bedeutender Untersuchungen zur Medienabhängigkeit von kulturellen Äußerungsformen, insbesondere zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, darunter Marshall McLuhans Gutenberg-Galaxis [18] , Eric Havelocks Preface to Plato [19] und Walter Ongs Presence of the Word [20] .

An Platon freilich scheiden sich bis heute die Geister. Wenn er im Phaidros die Schrift kritisieren läßt, so tut er dies m.E. nicht, wie insbesondere von Havelock und Ong behauptet wird, indem er die herkömmliche Oralität gegen die neue Literalität ausspielt, sondern indem er das neue Medium selbstreferentiell macht und mit dem neuen Medium die Aufmerksamkeit des Lesers für dessen Mängel weckt, so daß diese Mängel im Prozeß der Lektüre transzendiert werden. Es handelt sich hierbei um eine Frühform von Intertextualität – Jan Assmann nennt sie "Hypolepse" [21] –, die den von der Schrift bewirkten Verlust an situativer Erfahrung, die die mündliche Rede mit sich bringt, durch literarische Strategien zu kompensieren sucht. Just der vermeintliche Schriftgegner Platon ist für dieses hypoleptische Verfahren repräsentativer als jeder andere antike Autor. Seine Dialoge sind nicht, wie immer wieder gesagt wird, Versuche, die mündliche Rede unmittelbar in seine Texte einzuschalten, um ihren Schriftcharakter zu überwinden, sondern literarisch komplexe Gebilde. Wenn Platon Sokrates sprechen läßt, dann so, wie es die Postkarte Derridas zeigt (D 11) [22] , die die historischen Verhältnisse entstellt, aber dadurch zugleich eine philologische Fehlannahme richtigstellt: Platon diktiert Sokrates, d.h. er läßt seinen Lehrer, dessen mündliche Dialoge er vermeintlich authentisch aufgezeichnet hat, literarische Sätze sagen – denn es ist evident, daß Platon hier auktorial eingegriffen hat.

Wie Platons literarische Überwindung der Nachteile der Schrift funktioniert, kann ich hier nur ausschnitthaft und in schematisch verkürzter Form darstellen (D 12):

Sokrates spricht in Platons Dialog mit Phaidros. Dieses Gespäch ist aber nur der Rahmen für ein anderes Gespräch (oral) [23] , dem zwischen Theut und Thamus. Das sind der ägyptische Gott der Weisheit und der Schrift (den die Griechen Hermes nannten) und ein sagenhafter altägyptischer Gottkönig. Das Szenario hat Sokrates sich ausgedacht – er fingiert einen Mythos über die Erfindung der Schrift (literal). Demnach soll Theuth seine Erfindung dem König gegenüber mit dem Argument angepriesen haben, sie werde die Ägypter "gedächtnisreicher" machen. Thamus aber soll laut Sokrates geantwortet haben, daß das Gegenteil der Fall sein werde: Die Schrift, sagt er, "wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen mittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden" (Phaidros 274e1–275b2). Theuth alias Hermes hat also, Sokrates zufolge, ein trügerisches Gedächtnismittel gefunden, denn indem es die Mneme sützt, schwächt es sie.

Nun ist es aber bemerkenswert, daß Platon seine im Gespräch über das Gespräch enthaltene Schriftkritik seinerseuts schriftlich festgehalten hat (literal'). Dieser Selbstwiderspruch ist viel diskutiert worden. Ich glaube nicht, daß Platon sich seines literarischen Tuns in einem just davon handelnden Text unbewußt war. Ich glaube vielmehr, daß er ein Verfahren vorführen will, wie mit Schrift über die im Dialog herausgestellten Begrenzungen der Schrift hinauszugehen ist. Dieses Verfahren operiert mit wiederholten Spiegelungen von Literalität und Oralität. Platon vollzieht damit eine Verschachtelung von Textebenen, die sich gegenseitig durch Rahmengebung relativieren und so jeweils als situativ bedingte Darstellungsebenen kenntlich machen. Die innere Verschachtelung des Textes setzt dabei eine Dynamik in Gang, die über ihn hinaus fortgesetzt wird: Es ist schlechterdings nicht möglich, den Platonschen Dialog zu lesen, ohne daß der Leser dieses schriftkritischen Werks daran erinnert wird, daß er selbst gerade Leser einer Schrift ist (literal''). Die Lektüre selbst wird als situativer Akt erlebt – was normalerweise nicht der Fall ist. Normalerweise vergessen wir unsere aktuelle Lebenssituation beim Lesen. Hier fordert der Text ein Situtionsbewußtsein heraus – ein "ich lese", das die Rezeption der Schrift aufgrund ihrer selbstreflexiven Struktur begleitet und somit die literarisch festgehaltene Oralität im Verhältnis zwischen Buch und Leser re-performiert.

Was geschieht nun mit solchen literarischen Erinnerungstechniken, wenn sie auf digitale Medien übertragen werden? Ändert sich hierbei etwas Grundsätzliches? Oder bietet sich die Hypertextstruktur nicht geradezu an, um derartige Verschachtelungen zu realisieren?

In der Tat gibt es zahlreiche derartige Adaptions- und Überbietungsversuche Platons. Das Argument ist dabei immer wieder, daß der Hypertext die Lösung für die von Platon aufgezeigten Probleme der Schrift sei, weil er noch besser als Platons Dialoge Interaktivität ermögliche (D 13) [24] . Durch die Eingriffsmöglichkeiten in die Struktur von Texten entstehe eine "sekundäre Oralität", die die primäre an situativer Anpassungsfähigkeit noch übertreffe (D 14) [25] . Das Argument geht zurück auf Walter Ong, den Freund und Schüler McLuhans, der im Anschluß an Havelocks Charakterisierungen der mündlichen Kultur der Griechen manche ihrer Charakteristiken wiederkehren sieht: Die elektronischen Medien dementieren ihm zufolge die von der Schrift bewirkte Distanzierung zwischen Autor und Leser; denn das globale Dorf biete Partizipationsmöglichkeiten, die die Merkmale der primären Oralität, Situations- und Adressatenbezogenheit, auf höherer Stufe erneuerten. [26]

Wenn überhaupt, kann dieses Argument aber nur für andere als die bisher gezeigten Beispiele geltend gemacht werden, da diese keine Partizipations-, sondern nur a priori festgelegte Navigationsmöglichkeiten bieten. Wie aber verhält es sich beim kollaborativen Hypertext, bei dem der Leser sich aktiv einschreiben kann?

Ein weiteres Hypertext-Bispiel, das ebenfalls auf Platon Bezug nimmt, mag das verdeutlichen (D 15). Der User kann hierbei in die Rolle von Sokrates' Gesprächspartnern schlüpfen, um dann entweder der vorgegebenen Dialogstruktur zu folgen oder eigene Antworten per Email-Formular einzugeben. Die eingebauten Userantworten erscheinen dann wiederum als vorgegebene Alternativantworten. So verzweigt sich der Dialog dann gemäß der Dynamik der Leser-Zuschriften. Damit wird in der Tat eine aktive Partizipation des Rezipienten erreicht, wie sie herkömmliche Texte nicht bieten können. Die für unser Thema entscheidende Frage lautet aber, was bei einer solchen Ermächtigung des Lesers mit den Erinnerungsanlässen geschieht.

Bei Platon wurden diese rein kompositorisch, durch Verschachtelung der Textebenen realisiert. Der Hypertext dagegen vollzieht – so meine These – eine faktische Besetzung der Leerstellen, die in der Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Text der kontrafaktischen Imagination vorbehalten waren. Sobald man anfängt, den Dialog interagierend umzuschreiben, wird man feststellen, daß er gar kein Gespräch war, sondern ein schriftlich komponiertes Gefüge von Fragen und Antworten, die gemeinsam teilhaben an einer wohlkalkulierten Dynamik, die zerstört wird, wenn man von der Dramaturgie abweicht. Die Kombinationsoffenheit literarischer Leerstellen, die der Hypertext durch Verknüpfungen zu perfektionieren scheint, wird tatsächlich durch ihn nivelliert. Gerade weil die platonischen Dialoge invariant und nicht interaktiv sind, baut sich die Komplexität ihrer Struktur in der Vorstellung des Lesers auf. Dagegen vollzieht die Nachgiebigkeit des Hypertextes gegenüber jedem Ebenenwechsel eine permanente Komplexitätsreduktion. Für enzyklopädische Anwendungen ist das – wie insbesondere Umberto Eco klar differenziert hat – ein enormer Vorteil, nicht aber unbedingt für ästhetische.

Es ist also kein Zufall, daß bisher trotz angestrengter Initiativen zur Förderung der Hypertext-Poesie kein einziger Versuch wirklich überzeugen konnte. Schon macht das böse Wort von der "Klickeratur" die Runde. Denn dasjenige, was den Appellcharakter der Lektüre sonst ermöglicht: das Absehen vom Schriftbild, das wird hier durch Funktionsaufladung der Oberfläche behindert. Der Hypertext funktioniert nur als "Clickable Map", die als graphisches Objekt rezipiert werden muß (D 16). Damit verschiebt er die Wahrnehmung vom Lesen zum Sehen – oder wie Aleida Assmann es unterschieden hat: vom "reading" zum "gazing". [27] Beim "reading" schauen wir durch das Schriftbild sozusagen hindurch, um den Text zu verstehen. Beim "gazing" halten wir uns am Erscheinungsbild der Schrift fest, was einer intensivierten Lektüre tendenziell hinderlich ist.

Das heißt nun nicht, daß der Hypertext nicht auch Leerstellen aufbieten könnte, die eine ästhetische Transzendierung seines enzyklopädischen Charakters veranlassen. Doch hierfür sind Operationen vonnöten, die das vermeintlich Nebensächliche, das Erscheinungsbild der Schrift, betreffen: An der graphischen Oberfläche vollziehen sich alle maßgeblichen kreativen Innovationen des elektronischen Textes. Um diese neuen Modalitäten des Lesens zu erforschen, müssen wir uns mit Fragen der piktoralen Wahrnehmung beschäftigen. Ich gehe daher nun über von der Schrift zum Bild, um abermals zu fragen, wie sich hier Leerstellen manifestieren können, zunächst grundsätzlich, dann historisch, und schließlich mit Blick auf Veränderungen in der Computermoderne.

 

2. Piktorale Leerstellen

Erst in jüngster Zeit haben Kunstgeschichtler, Architektur- und Kinotheoretiker den Terminus Isers aufgegriffen und für ihre Interpretationsgegenstände fruchtbar gemacht. So macht etwa der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp an Gérômes Gemälde Der Tod des Marschall Ney verschiedene Arten von Leerstellen aus (D 17): z.B. die leere Fläche der Mauer als Ort und Spur einer unbestimmten vergangenen Handlung oder den Raum vor dem Bild, der durch die Bewegungsrichtung des zurückblickenden Soldaten nur angedeutet wird und vom Betrachter erschlossen werden muß.

Ich gehe auf Kemps Beispiel der imaginativen Ergänzungen von visuellen Leerstellen nicht näher ein, sondern möchte zur Erläuterung des erinnernden Sehens unter den Bedingungen analoger Medien wiederum auf eine antike "Urszene" zurückgreifen, um sie dann im Vergleich mit den Gegebenheiten digitaler Medien auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu überprüfen. Als eine solche Urszene bietet sich der Pygmalion-Mythos an – jene von Ovid überlieferte Geschichte, in der sich ein Bildhauer eine Frau nach seinen Wunschvorstellungen schafft (D 18).

Was bei Ovid den Vorgang der Beseelung plausibel macht, ist die Scham: Pygmalion hat sich von den Propoetiden abgewendet, weil diese schamlos gewesen sind, und zur Strafe in Stein verwandelt wurden (Met. X, V. 241 f.). Er selbst schafft sich nun eine Skulptur, die den Ausdruck der Schamhaftigkeit annimmt. Ovid dürfte dabei den klassischen Bildtyp der "Venus pudica" – der schamhaften Venus – vor Augen gehabt haben (D 19). Über den Moment der Animation des Artefakts heißt es: "Wie einer wirklichen Jungfrau ihr Antlitz, du glaubtest, sie lebe,/ wolle sich regen, wenn die Scham es ihr nicht verböte." (V. 250f .) [28] Damit wird gerade die Erstarrung, das Merkmal der Statuenhaftigkeit, für den Betrachter zum Zeichen einer seelischen Regung,  d.h. der "Animation" im Wortsinn.

Wenn wir diesbezüglich nun wiederum den Vergleich mit digitalen Medien vornehmen, können wir abermals eine signifikante Veränderung feststellen: Der Begriff der Animation, der einmal den Vorgang der Beseelung durch übernatürliche Kräfte bezeichnete, ist im Computerzeitalter zum terminus technicus geworden. "Animierte" Kultfiguren wie Lara Croft (D 20) scheinen (ähnlich wie der Hypertext den Platonischen Dialog) ihre analogen Vorläuferinnen zu überbieten, da sie sich nun tatsächlich bewegen können und nicht darauf angewiesen sind, durch eine Erstarrungsgeste die Not ihrer Nichtbeweglichkeit in die Tugend der schamhaften inneren Seelenregung zu verwandeln.

Doch entgegen einer verbreiteten Ansicht beruht der Kultstatus solcher Cyberwesen nicht auf der täuschend "echten" Simulation ihrer Körperlichkeit, sondern gerade auf Schematisierung und Entindividualisierung – Kriterien, die schon für den Ikonenkult gelten. Das läßt sich zum Beispiel an Kismet demonstrieren, einem Geschöpf des MIT, das auf seine Umwelt durch optische Erkennungsprogramme mit Gefühlsausdrücken reagiert (D 21). Die Produzenten haben sich keine große Mühe gegeben, diesem Wesen eine realistische Physiognomie zu verleihen. Und dennoch weckt es Sympathiegefühle, evoziert unsere Projektion von Lebendigkeit. Dies kann gerade deshalb geschehen, weil das Artefakt eine organische Mangelaustattung vorweist, die im Sinne des Leerstellentheorems zur imaginativen Ergänzung  einlädt. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, daß das Digitale selbst den Charakter des Geheimnisvollen angenommen hat. Gerade weil sich das "Innenleben" der Computer unserer Sinneswahrnehmung entzieht, erscheinen uns ihre Animationen oft nicht als tote Automatismen, sondern als beseelt.

Ein Pionier der Künstlichen Intelligenz, Joseph Weizenbaum, hat sich aufgrund solcher Beobachtungen in einen erschrockenen Kritiker dieser Technologie und ihrer Mythen verwandelt. Sein Dialogprogramm ELIZA simulierte mit einfachen Mitteln einen Gesprächstherapeuten (D 22). Was Weizenbaum so schockierte, war das enorme evokatorische Potential des simplen Computercodes, der die menschlichen Benutzer dazu veranlaßte, ihm intimste Geheimnisse anzuvertrauen. [29] Das läßt sich ebenfalls mit dem Prinzip der Leerstelle erklären: Gerade die Abwesenheit des Anderen entfesselte die Wunschphantasie eines idealen Partners.

Die Weiterentwicklung der Animationstechnik allerdings sorgt dafür, daß auch diese Leerstelle allmählich von einem anderen Sinnesmedium besetzt wird. George Bernard Shaws Pygmalion (1912), dem Weizenbaum den Namen seines Programms, ELIZA, entlehnte, hatte das schon antizipiert. In Shaws modernisierter Version des Mythos, die später unter dem Titel My Fair Lady (1963) vertont wurde, besetzt die Phonetik den Ort der visuellen Leerstelle und erweist sich als Folterinstrument (D 23). Der Imaginationsraum der eigenen Träume und Phantasien wird von der Disziplinarmacht der phonetischen Instruktion kolonisiert und zur Hörigkeit gezwungen: Die visuelle Leerstelle des Pygmalionmotivs kann also akustisch aufgefüllt und damit zum Verschwinden gebracht werden.  So sind z.B. auch viele Menschen enttäuscht, die sich über Chatrooms im Internet – also einer rein von Bildzeichen orientierten  Kommunikation mit entsprechend vielen Leerstellen – verliebt haben, und dann – beim Versuch, sich mit dem Partner zu verabreden –, das erste Mal dessen Stimme am Telefon hören. [30]

Auch das Internet hat aufgehört, ein rein visuelles Medium zu sein, sondern beginnt mittlerweile in einer Weise zu tönen, die der Phantasie die Flügel binden kann. Auch hier werden wir – zumindest im kommerziellen Bereich – den Effekt erleben, daß der offene Erwartungshorizont der Imagination auditiv eingeschränkt wird. Ästhetisch ambitionierten Multimedia-Produzenten fällt damit auch im Bereich des Klangs die Aufgabe zu, Leerstellen zu eröffnen.

 

3. Auditive Leerstellen

Leerstellen sind für das Musikhören geradezu konstitutiv. Der gemeinsame Grundzug  musikalischer Leerstellen  – von der vox omissa über Suspiratio, Generalpause, Zäsur, Suspension bis hin zum Rauschen oder Schweigen – ist, daß es sich um Einschnitte in habituelle Hörmuster handelt, die aufgrund eines Kontrasteffekts zwischen Erwartung und Erinnerung  eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Hörens selbst bewirken. Die immanente Spannung zwischen der Wiedererkennungsfunktion musikalischer Strukturen und deren Subversion kommt bei aller Verschiedenheit der historischen Stile immer wieder durch dasselbe Grundmuster zustande: Ein entweder vom Stück selbst oder musikgeschichtlich vorgegebener Klangeindruck wird aufgegriffen und zugleich dergestalt der Erwartung der Hörgewohnheit entzogen, daß die Erinnerung an das Frühere vertraut und unbekannt ineins erscheint. Eben das verbindet jede ambitionierte Klangästhetik mit dem Déjà-entendu-Effekt musikalischer Reminiszenz. [31]

Das hat in neuerer Zeit insbesondere John Cage musikalisch erfahrbar zu machen gesucht. Der radikalste Ausdruck hierfür ist sein Stück 4'33", das überhaupt keine Klangangebote macht, sich mithin als die absolute musikalische Leerstelle präsentiert (D 24). Das musikalische Gedächtnis wird damit aber nicht schlechthin verworfen. Vielmehr sollen die kulturell ankonditionierten Hörgewohnheiten, der "Klebstoff" der Tonbeziehungen [32] , aufgelöst werden, um ein anderes Gedächtnis freizusetzen.

Entsprechendes kennt die Musikgeschichte nicht erst seit den Avantgardebewegungen – im Grunde fällt das Aufbrechen von Gedächtniskonventionen zugunsten eines davon verdeckten Erinnerungserlebens mit dem Ursprung der Musik selbst zusammen. Dies läßt sich am Mythos von Orpheus ablesen, der zweifellos die historische Urszene des erinnernden Hörens darstellt (D 25).

Orpheus ist als Sohn der Muse Kalliope ein Enkel von Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Hinter dieser mythischen Überlieferung stehen offenbar schamanistische kulturelle Praktiken. So repräsentiert Orpheus einen Schamanen, der durch die Trancewirkung seiner Musik in der Lage ist, mit den Geistern von Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. [33] Unter anderem klagt er so bewegend über den Verlust seiner Geliebten, daß ihr Erinnerungsbild lebendig wird: Er kann Eurydike aus dem Hades zurückholen. Dabei darf er sich nicht umblicken – ein Hinweis darauf, daß die Musik die sichtbare Welt transzendiert. In Ovids Version der Geschichte heißt es explizit, daß die reanimierte Eurydike solange folgt, wie Orpheus nicht versucht, ihrer im Bild habhaft zu werden. Nur virtuell, als Schatten, ist das Erinnerungsbild lebendig (D 26).

Wir wissen nicht, wie die Musik geklungen hat, der die Griechen jene Wunderkraft zuschrieben. Wir können es nur indirekt, aus Beschreibungen und Abbildungen, erschließen. Dabei ist ein vorherrschendes Bildmotiv die Wirkung seines Gesangs auf Tiere (D 27). Es zeigt an, daß der orphische Klang unmittelbar die Instinkte anspricht. Die Tiere sind, wie Nietzsche das pointiert ausgedrückt hatte, die Meister der Selbstvergessenheit; sie würden diese Fähigkeit auch gerne den Menschen lehren – wenn sie nicht immer gleich vergäßen, was sie sagen wollten. [34] Der an die Instinkte appelierende Klang schafft eine Leerstelle im kulturellen Gedächtnis, die ältere, regressive Schichten des eigenen Unterbewußtseins zur Geltung kommen läßt. So erzählt etwa Apollonius von Rhodos, daß Orpheus die streitsüchtigen Argonauten mit seinem Gesang friedlich stimmt und einschlafen läßt, also buchstäblich "hypnotisiert". [35]

Der Leerstellencharakter dieser sagenhaften Musik ist historisch lange so sehr beherzigt worden, daß es bis ins späte 15. Jahrhundert keinen Versuch gab, sich dem Stoff musikdramatisch anzunähern. Und Claudio Monteverdi bleibt es vorbehalten, 1607 mit seinem Orfeo die Tradition der Oper zu begründen.  Hier setze ich ein, um den analogen Angelpunkt für den späteren Vergleich mit der digitalen Musik zu setzen.

Monteverdi inszeniert das Vermögen der Musik, Erinnerungen lebendig werden zu lassen, durch einen Kontrasteffekt. Zunächst läßt er Orpheus eine Arie singen, die auf ihre Wirkung hin berechnet ist (D 28): La Speranza, die Hoffnung, gab ihm den Rat, einen schönen Gesang, einen "bel canto" anzustimmen. Mit extrem melismatischen Verzierungen, untermalt von Echos, gibt Orpheus eine Probe seiner Kunst. Überraschenderweise aber zeigt das bei Charon, dem Fährmann zur Unterwelt, keinerlei Wirkung! Monteverdi demonstriert mit dieser musikdramatischen Pointe, daß es nicht das kunstvolle Dekor ist, das der Musik ihre Macht verleiht. Das verzierte Bitten wird rüde zurückgewisen (D 29). Es ist nun gerade diese Zurückweisung, die Orpheus zu ganz anderen musikalischen Effekten motiviert. In seiner Verzweiflung versucht er nicht mehr, seinen Zuhörer artistisch zu beeindrucken, sondern bringt unmittelbar seine Gefühle zum Ausdruck. Und eben diese präkognitive, nicht berechnete Ansprache führt zum Erfolg. Die Macht der Musik besteht hier in einer hypnotischen Überwältigung: Charon ist kein Kunstkenner; er reagiert nicht interpretativ, sondern physiologisch auf Klänge. Gegen seinen Willen schläft er ein und gibt so den Weg zum Hades frei.

Die Musikgeschichte hat eine Fülle an Versuchen hervorgebracht, diese Zauberwirkung jeweils mit den zeitgemäßen Mitteln zu plausibilisieren und damit auditive Revolutionen begründet – von Monteverdi über Gluck und Offenbach bis hin zur neuesten Popularmusik, die wieder so unmittelbar wie möglich den archaischen Kern des Mythos, die Trance-Wirkung von Klangfarben und Rhythmen, zu reaktivieren sucht. Wiederum komme ich damit zur Frage nach den Auswirkungen des Übergangs von analogen zu digitalen Leerstellen, abschließend im Bereich der Musik.

Wer im Internet nach Orpheus sucht, findet ihn als Label für diese Musikrichtung gut vertreten. Die Bezugnahme auf die mythische Überlieferung vollzieht sich auch hier im Modus einer digitalen Amplifikation. So versteht sich etwa der Trance-Techno-Track Engines of Orpheus von EtherGun (2000) als Rückgriff auf die "true legend of Orpheus, undistorted by the Greek mythologists" (D 30). Bei Techno geht es primär um physiologische Wirkungen des Hörens, die den Wachzustand des Alltags vergessen machen sollen, um sich präkognitiver Wahrnehmungsschichten inne zu werden. Dieser Leerstellencharakter gilt besonders für jene Produktionen, die unter dem psychedelischen Label "Trance-Techno" firmieren (D 31). Das Instrumentarium dieser Musik bietet alle Möglichkeiten zur Erzeugung von Klängen, die Musikpsychologen als trancefördernd auflisten. Dazu gehören insbesondere repetitive Strukturen, Schwingungen und Rhythmen zwischen 4 und 13 Hertz, die im Gehirn eine dominante Alpha-Theta-Aktivität hervorrufen, sowie die Schalldruck-Empfindung sehr tiefer Töne.

Dem kunstsinnigen Vorbehalt, daß Techno ein nervtötendes Gewummer sei, ist entgegenzuhalten, daß auch von Orpheus berichtet wird, er habe so laut gespielt, daß "allen die Ohren vom brausenden Spiele erdröhnten". [36] Den Idealtyp solcher Musik kann man nicht hören, man muß ihn spüren, den Körper von der Musik forttragen lassen, mit dem Ziel einer vollständigen Dissoziation vom Alltagsbewußtsein. Auch beim Techno wird der "Klebstoff" musikalischer Konventionen aufgelöst. Insofern eröffnet gerade das Dröhnen der Bass Drum eine absolute musikalische Leerstelle.

Man könnte also versucht sein zu sagen, dieses Dröhnen sei ein Pendant zum Schweigen von Cage. Allerdings ist die entleerende Wirkung der Techno-Trance völlig reflexionslos. Sie weckt keine Aufmerksamkeit für den Vorgang des Hörens, sondern unterbindet sie zugunsten einer rein körperlichen Präsenzerfahrung. Demnach finden wir auch im Bereich der Musik den Effekt, daß der Übergang von der analogen zur digitalen Leerstellenproduktion deren evokatorisches Potential durch Übererfüllung paralysiert. Die musikalische Erinnerungstechnik schlägt auf ihrem technologischen Höhepunkt in reinen Präsentismus um. Die akustische Leerstelle wird total und verschwindet eben darum in der Verschmelzung von Mensch und Soundmaschine.

Doch gibt es auch hierzu die selbstreferentielle Gegenbewegung. Der deutsche Musiker Wolfgang Voigt etwa produziert eine hochreflexive Form von Techno, die mit vielfach geloopten Wagner- und Debussy-Fragmenten ein gefärbtes Rauschen erzeugt, das konsumistische Hörgewohnheiten umkehrt und das mit jedem Musikhören verbundene Gefühl eines déjà entendu als solches erfahrbar macht und damit eine auditive Selbstaufmerksamkeit erzeugt (D 32). Auf diese Art kann an eine im Abendland verschüttete Trancekultur angeknüpft werden – gerade durch verfremdendes Sampling der eigenen musikgeschichtlichen Tradition, die diese Trancewirkung zunehmend diszipliniert hatte.

In Korea ist das Erbe der auditiven Tranceinduktion durch den immer noch verbreiteten Schamanismus lebendiger geblieben (D 33). Inwieweit dadurch auch das Sensorium des erinnernden Hörens stärker ausgeprägt ist, wäre eine lohnende Frage für interkulturelle Vergleichsstudien.

 

Resümee

Die medial und historisch erweiterte Anwendung von Isers Leerstellentheorem machte es möglich, unterschiedliche Formen der Erinnerungsaktivierung  herauszuarbeiten. So erkennen wir auf der einen Seite die Tendenz, daß im Übergang von analogen zu digitalen Medien die ästhetischen Leerstellen ihr Erinnerungspotential verlieren, und zwar gerade durch die technische Realisierung des Virtuellen, das der Rezipient sonst in seiner Vorstellung aktiviert. Die Multimedia-Technologie sorgt zudem durch Einschmelzung der traditionell getrennten Sinnesbereiche in das Universalmedium Computer dafür, daß sie sich auch gegenseitig ihre Leerstellen nehmen. Wie wir gesehen haben, wird die Leerstelle im Text durch das Bild okkupiert, die im Bild durch den Klang und die im Klang schließlich durch sich selbst, indem sie totalitär wird: Intertextuelle, interpiktorale, intertonale Sphären ästhetischer Erfahrung scheinen also im Zeitalter der Multimedia-Technik mit digitalen Lückenfüllern zugeschüttet zu werden. Andererseits gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, daß eben diese Tendenz mit den Elementen der Digitaltechnik zur Selbstreflexion gebracht und insofern umgekehrt werden kann. So wie die analoge Kunst ihre Aufzeichnungsmaterialien gegen sich selbst zu wenden gelernt hatte, so vermag auch die digitale Kunst aus ihren hypermedialen Speichern neue Leerstellen hervorzutreiben. Die Voraussetzungen hierfür liegen, formelhaft gesagt, im Übergang von der Multimedialität zur Intermedialität. Darunter verstehe ich ein kontrastives Arrangement der drei Informationsträger Schrift, Bild und Klang, das Zwischenräume einer Schwellenerfahrung eröffnet, die zum Erinnerungsanlaß  werden können.

Die vorstehenden Ausführungen mögen exemplarisch verdeutlicht haben, daß philologische Ansätze nicht zwangsläufig eine Einengung der Untersuchungsperspektive auf Texte erfordern, sondern mit Gewinn auf andere medienkulturelle Manifestationen angewandt werden können. Dies bedeutet freilich nicht, daß Germanisten ihre literarhistorischen Kernkompetenzen verlassen und z.B. mit Kunst- oder Musikhistorikern konkurrieren sollten. Es bedeutet vielmehr, daß sich neue Möglichkeiten für einen Dialog mit den Nachbardisziplinen eröffnen – Möglichkeiten, die die Attraktivität unseres Fachs erhöhen und die man sich nicht mit dem phänomenfremden Verweis auf Disziplingrenzen nehmen lassen sollte.



[1] Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte; Der Lesevorgang; Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells. Konstanz 1971. – Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung; München 1976.

[2] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen; München 1992.

[3] Die Sigle "D" bezieht sich auf die medialen Demonstrationen zu meinem Vortrag, die in verkürzter Form im Internet abrufbar sind unter www.peter-matussek.de/Pub/V_42_Demos/.

[4] Assmann, a.a.O., S. 22.

[5] Schacter, Daniel L.: Forgotten Ideas, Neglected Pioneers: Richard Semon and the Story of Memory; Brighton 2001.

[6] Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens; 3. Aufl. Leipzig 1911,  S. 170.

[7] Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie; Frankfurt am Main 1981, S. 327, Anm. 7.

[8] Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hg. v. Martin Warnke u. Mitarb. v. Claudia Brink. Gesammelte Schriften, Studienausgabe. Hg. v. Horst Bredekamp u.a. Zweite Abteilung, Bd. II.1; Berlin 2000, S. 384.

[9] Kemp, Wolfgang: Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik; Berlin Hamburg 1992, S. 307-333. – Boehm, Gottfried: Sehen. Hermeneutische Reflexionen. In: Konersmann, Ralf (Hg.): Kritik des Sehens; Stuttgart 1997, S. 272-299.

[10] Bordwell, David [1994]: Ozu and the poetics of cinema; Princeton 1994. – Branigan, Edward [1998]: Narrative Comprehension and Film; New York 1998.

[11] Macho, Thomas [1993]: Die Kunst der Pause. Eine musikontologische Meditation. In: Paragrana 2 (1993), H.1–2, S. 104–115.

[12] Zizek, Slavoj [1996]: Die Virtualisierung des Herrn. In: Felderer, Brigitte (Hg.): Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert; Berlin Heidelberg New York 1996, S. 109–118.

[13] Iser: Der Akt des Lesens, a.a.O., S. 284.

[14] Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist; Hamburg 1991, S. 95.

[15] Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon; Berlin 1919, Bd. I, S. 389.

[16] Parry, Milman: The Making of Homeric Verse; Oxford 1971.

[17] Lord, Albert B.: The Singer of Tales; München 1965.

[18] McLuhan, Herbert Marshall: The Gutenberg Galaxy (1962); Toronto 1997.

[19] Havelock, Eric A.: Preface to Plato; Cambridge London 1963.

[20] Ong, Walter J.: The Presence of the Word; New Haven London 1967.

[21] Assmann, a.a.O., S. 280–292.

[22] Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits; Berlin 1982.

[23] Die in Klammern gesetzten Attribute "oral" und "literal" beziehen sich auf die entsprechenden Knöpfe in der Internet-Präsentation D 12.

[24] Bolter, J. David: Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing; Hillsdale (NJ) 1991, S. 214 ff.

[25] Kolb, David: Socrates in the Labyrinth [Hypertext]; Cambridge (Mass.) 1995.

[26]   Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes; 2. Aufl. Opladen 1987,  S. 136.

[27] Aleida Assmann: "Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose". In: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation; Frankfurt am Main 1988, S. 237–251, hier S. 240 ff.

[28] Auch als die Figur am Ende von Venus in einen realen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt wird, ist Scham ihr eigentliches Lebenszeichen: "Die Jungfrau fühlte die Küsse,/ und sie errötete" (V. 292 ff.).

[29] Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft; Frankfurt am Main 1978.

[30] Vgl. Döring, Nicola: Romantische Beziehungen im Netz. In: Thimm, Caja (Hg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet; Opladen 2000, S. 39–70, hier: S. 58.

[31] Vgl. Matussek, Peter: Déjà entendu. Zur historischen Anthropologie des erinnernden Hörens. In: Oesterle, Günter / Schneider, Lothar (Hg.): Déjà Vu; München 2002, S. 289–309.

[32] Metzger, Heinz-Klaus: Versuch über prärevolutionäre Musik. Begleitheft zur Schallplatte Music before Revolution.

[33] Luck, Georg: Magie und andere Geheimlehren in der Antike; Stuttgart 1990, S. 16 ff.

[34] Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.  In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari; München Berlin New York 1988, Bd. 1, S. 243–334, hier S. 248.

[35] Apollonius von Rhodos, Das Argonautenepos. Griechisch-Deutsch. Hg. v. R. Glei u. S. Natzel-Glei. 2 Bde. Darmstadt 1997, I, V. 518.

[36] Ebd., V. 540.