Peter Matussek

Tun und Lassen

Zur Dynamik des Faustschlusses

 


Erschienen in: Jarasch, Oliver / Greven, Thomas (Hg.): Umwege. Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen; Frankfurt am Main 1999, S. 50–60.

 

     
 

Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten  vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat,[1] wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. Das allegorisch verhüllte Bekenntnis zu einer sowohl dem irdischen Tun wie auch dem nach christlicher Logik verdienten Himmel so sehr enthobenen Sphäre macht in der Tat das für den Verstand "Unzulängliche" zum "Ereignis", ist Praktizierung des "Unbegreiflichen", von dem der Chorus Mysticus spricht  (12104–12111). Wer sich dennoch auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit den offiziellen Kirchenlehren dem Gehalt der Szene zu nähern sucht (und dabei gewiß Bemerkenswertes zutage fördert[2]), kommt um die Erkenntnis nicht herum, daß immer nur Teilaspekte dieser Lehren in der Szene wiederzufinden sind, über die sie befremdlich unvertraut hinausragt. Ich möchte im folgenden einen anderen Interpretationsweg einschlagen, der sich der Szene weniger über die semantische als über die pragmatische Sprachebene zu nähern sucht: Ich lasse die theologischen Inhalte einmal dahingestellt sein und frage stattdessen nach der dramaturgischen Dynamik, die die Szene motiviert; das heißt, ich nehme den Ereignischarakter, den der Chrous Mysticus in Opposition zum Beschreiblichen setzt, beim Wort.

Ereignisse sind oft besser an ihren Wirkungen abzulesen als im direkten Zugriff auf ihre Ursachen. Und so sei es gestattet, wenn ich den Zugang zu den dramaturgischen Beweggründen der Bergschluchten-Szene über den Umweg der abwehrenden Reaktionen suche, den sie bei vielen Rezipienten ausgelöst hat. Das eigentümliche Schweben der Figuren und ihrer Sprache, die niemals an einen Punkt kommen, wo sie sich und damit dem Interpreten Halt geben; die Atmosphäre der ätherischen Entrücktheit; die merkwürdig entkörperlichte Erotik mit ihrer passivischen Aufwärtsbewegung zum "Ewig-Weiblichen" – all das hat in der Tat zu spöttischen Äußerungen Anlaß gegeben. Ein kleiner rezeptionsgeschichtlicher Exkurs über das Feld der Bergschluchten-Parodien mag verdeutlichen, inwiefern dieser Spott eine Abwehrreaktion ist und worin diese begründet sein könnte.

Friedrich Theodor Vischer, der im jugendlich-himmelstürmenden Frühwerk den wahren Goethe sieht, im Spätwerk dagegen nurmehr verklausulierte Altersimpotenz, polemisiert heftig gegen den Faust II, der insbesondere am Ende seinen Dichter als "Allegorientrödler und Geheimnisdüftler" verrate[3], und wandelt die Schlußverse folgendermaßen ab:

Das Abgeschmackteste,
Hier ward es geschmeckt,
Das Allervertrackteste,
Hier war es bezweckt;
Das Unverzeihliche,
Hier sei es verziehn;
Das ewig Langweilige
Zieht uns dahin![4]

 

Auch Nietzsche hatte, obschon einer der ersten, die die Qualität des Spätwerks erkannten, mit dem mystischen Ende seine Probleme. Seine Parodie spielt den künstlerischen gegen den katholizistischen Aspekt der Dichtung kontrapunktisch aus:

Das Unvergängliche
Ist nur dein Gleichniss!
Gott der Verfängliche,
Ist Dichter-Erchleichniss...
Welt-Rad, das rollende,
Greift Ziel auf Ziel:
Noth – nennt's der Grollende,
Der Narr nennt's – Spiel…
Welt-Spiel, das herrische,

Mischt Sein und Schein: –
Das Ewig-Närrische
Mischt uns – hinein!…[5]

 

Ist es bei Nietzsche die Erwähnung eines weltenthoben Göttlichen, was ihn provoziert, nehmen andere das Ewig-Weibliche als enterotisierte Mystifikation der klassischen Frauenrolle aufs Korn. Hierfür nur ein Beispiel. Ludwig Eichrodt, dem wir den Begriff Biedermeier verdanken, wendet Goethes Verse so:

Habe das Kleinliche
Längst abgethan;
Das Sauberschweinliche,
Urgesund Reinliche
Breche sich Bahn,
Das Wassersteinliche
Zieht mich hinan.
Denn das Unleibliche,
Maimondenscheibliche,
Urturteltäubliche,
Ist nur ein Wahn;
Das Zeitvertreibliche
Walzend Betäubliche,
Weltnabelreibliche
Will sich mir nahn,
Das Unverkneipliche
Hier ist's verthan.
Das Unausbleibliche,
Wechselverschreibliche,
Hat mich schon dran.
Das Eheweibliche
Geht mich nichts an![6]

 

In der Tat erscheint das Weibliche in der Schlußszene so unleiblich, daß es schwerfällt, hierin auch nur einen Rest von Goethes heidnischem Bekenntnis zum natürlichen Eros zu erkennen, der die Klassische Walpurgisnacht so lebensbejahend krönt. Bertold Brecht betont denn auch in den Faust-Anspielungen seiner heiligen Johanna der Schlachthöfe, daß der religiöse Aufschwung der Seele nicht das irdische Dasein verleugnen darf und kann:

Seht, dem Menschen seit Äonen
Ist ein Streben eingesenkt
Daß er nach den höheren Zonen
Stets in seinem Geiste drängt.
Sieht er die Gestirne thronen
Ahnt er tausend Himmelwärtse
Während er zu seinem Schmerze
Mit dem Fleisch nach unten hängt.[7]

 

Eckhard Henscheid schließlich ergänzt diesen nüchternen Befund von der heiteren Seite, indem er die Ahnung der "Himmelwärtse" als Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, als deliranten Taumel beschreibt:

Alles Verschlingende
Kreuchfleuchend wringende
Jubelchor-Singende
Cherubin-Klingende!
Brüdergelalle, möndliche Zier!
Wie's mir gefalle
Gefall' ich auch mir
Schwalbengrau tanzendes
Traulich verranzendes
– Leuchtend und licht: –
Sternenumkränzetes Brüdergezücht.[8]

 

Soweit unser kurzer Streifzug duch die Geschichte der Bergschluchten-Parodien. Es läßt sich aus ihnen unschwer ein gemeinsamer Tenor heraushören, und zwar die Abwehr alles dessen, was dem faktischen Dasein enthoben, dem irdischen Treiben entrückt ist. Was mit diesem nicht übereinstimmt, wird als langweilig (Vischer), als Dichter-Erschleichnis (Nietzsche), als leibfeindlich (Eichrodt), naiv gegenüber den facta bruta des Lebens (Brecht) oder als Brüdergelalle (Henscheid) dargestellt. Merwürdig ist nur, daß alle diese Stellungnahmen in ihrer Ablehnung durchaus Positionen Goethes in Anspruch nehmen, Positionen, die dieser insbesondere gegenüber der katholischen Jenseitsorientierung der Romantik geltend machte und seinerseits oft mit Spott überzog, etwa, wenn er beteuerte, er habe diese "Kinderpäpstelei satt", "das klosterbrudrisirende, sternbaldisirende Unwesen".[9]Daß hier Unvereinbarkeiten mit Goethes eigenen Adaptionen katholischer Motive vorliegen, spricht die romantische Goethekritik selbst aus. Joseph von Eichendorff etwa empört sich darüber, daß "Faust, den doch offenbar längst der Teufel geholt, […] hier auf einmal als völlig courfähiger Kavalier am himmlischen Hofe" erscheint. Die "opernartige Heiligsprechung" Fausts, die der katholischen, an Beichte und Buße gebundenen Erlösungsdoktrin nicht entspricht, erscheint ihm "wie eine vornehme Umschreibung des trivialen Volkstextes: Lustig gelebt und selig gestorben".[10]Daß hier Gnade wahrhaft vor Recht ergeht[11], kann die Orthodoxie nicht akzeptieren.

Der Angriff kommt also von zwei Seiten: von unten und von oben sozusagen. Liegt Goethes Wahrheit in der Mitte? Damit wäre angesichts der schwebenden Figuren und ihrer ungreifbaren allegorischen Bedeutungen nichts ausgesagt. In der Mitte liegt vielmehr – goethetypisch – das Problem.[12]Dieses haben wir in unserem bisherigen Deutungsumweg als Provokation spezifiziert – als Provokation der Unduldsamkeit gegenüber dem Unkontrollierbaren, Nicht-Eigenen, Anderen. Genau das aber sind Einstellungen, die wir beim prämortalen Faust feststellen können. Die Szene Großer Vorhof des Palastes zeigt ihn uns als einen zwanghaften Deichebauer, der auf seinem künstlichen Neuland nicht die kleinste Fremdansiedlung duldet und sich ganz der Aufgabe verschrieben hat, alle Lücken in seinem anti-elementaristischen Schutzwall abzudichten. Sein von dieser Projektidee eingeleitetes Sterben ist eine offensichtliche Bestätigung der Goetheschen Sentenz: "Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott."[13]Dem kontrastiert nun die Bergschluchten-Szene, in der Fausts Unsterbliches nichts mehr für sich tun kann, sondern ganz auf das Geschehenlassen des Begnadigungsprozesses angewiesen ist. Beides hängt aber offenbar miteinander zusammen; "Wer immer strebend sich bemüht/ Den können wir erlösen" (V.11936f.) sagen die Engel, und so hat es nicht an Versuchen gefehlt, in diesem Wechselspiel den Goetheschen Rhythmus von Systole und Diastole zu sehen. Diese Zuschreibung aber ist höchst problematisch, da sie Fausts eklatante Verbrechen als Teil eines natürlichen Lebensrhythmus entschuldigen würde. Wie problematisch eine solche Deutung des Faustschen Zustandswechsels ist, wird etwa an der Argumentation Wilhelm Emrichs deutlich: Sie wirft die Schuldfrage zwar auf, verlegt sie aber in eine übergeschichtliche "Naturlehre der Gesellschaft", derzufolge "Faust nicht schuldig ist im Sinne einer einmaligen moralischen Verfehlung, sondern eines totalen Naturschicksals"[14]. Durch den Naturzusammenhang könne er deshalb auch erlöst werden: "Alles Böse aber kann auch wieder ins Gute verkehrt werden, wenn der Mensch sich heiter frei selbst hinzugeben vermag, seiner Liebeskraft bewußt, die als göttliche Flamme, als Geist in ihm wirkt. Dann ist ihm Wiedergeburt verheißen, ja […] sogar echte, wahre Herrschaft über das Elemen­tarische, das ihn vor­her zu vernichten drohte.“[15]Es berührt eigentümlich, daß diese Sätze während der Nazi-Diktatur gechrieben wurden, die durch keinerlei Dialektik ihr Böses ins Gute zu verkehren erlaubt. Der Szenenwechsel vom Schlußmonolog zu den Bergschluchten gestattet es ebensowenig, ihn mit einer unhistorischen Apologie natürlicher Rhythmen zu sanktionieren. Der Zivilisationsprozeß hat dieses Gleichgewicht seit je gefährdet. Schon die frühindustirellen Rahmenbedingungen der Goethezeit gestatteten es nicht mehr, in ihren Lebensformen ein "gesundes" Wechselspiel von vita activa und vita contemplativa anzunehmen. Das Begriffspaar fungierte bereits als ideologische Überhöhung der kapitalistischen Maschinerie von Produktion und Reproduktion. "Tages Arbeit, abends Gäste!/ Saure Wochen, frohe Feste!"[16]– die Quintessenz aus Goethes Schatzgräber-Ballade macht deutlich, daß es nicht natürliche Impulse sind, die den Rhythmus von Aktivität und Passivität bestimmen, sondern die gesellschaftliche Organisation der Arbeitszeit. Gegen die Behauptung eines "gesunden" Verhältnisses beider Zustände im Faustschluß spricht schon die radikale Zäsur des Todes, die hier zwischen ihnen liegt. Sie zerschneidet beide in absolut voneinander getrennte Sphären, die in ihrer Isolation vielmehr Symptomträger für die Pathologien der Moderne sind. Eben diese Symptomatik zeigt sich nach meiner Überzeugung auch in den erwähnten Abwehrreaktionen. Ich behaupte, daß das ihnen Unerträgliche vor allem darauf zurückzuführen ist, daß in diesem Dramen-Himmel nichts mehr getan werden kann. Auch Goethe hatte an die Weiterführung der irdischen Tätigkeit seine Überzeugung einer postmortalen Fortexistenz geknüpft: "Wirken wir fort", schreibt er in seinem berühmten brief vom 19.3.1827 an Zelter, "bis wir, vor- oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu, so würden wir gewiß nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen." Was aber Goethe von seinem Faust grundsätzlich unterscheidet, ist jene Qualität der Selbstbesinnung, die er mit dem Begriff des Nachgefühls umschreibt. Faust geht ganz im "Vorgefühl" (V. 11585) seines Deichprojektes auf; er ist unfähig sich zu erinnern. Deshalb akzentuiert die Schlußszene  in dem Maße die Momente der Passivität und der Hingabe, wie zuvor die Aktivität zur Obsession wurde. Beide Extreme zeigen, daß das natürliche Gleichgewicht eines besonnenen Handelns – nach Goethe die "praktische Seite von 'Erkenne dich selbst'[17] – hier aus dem Lot geraten ist. So wird denn auch nicht die Anspannung des Schlußmonologs durch die Kontrafaktur der Bergschluchten in einen Aspekt gesunder Lebensrhythkmik transformiert, sondern radikal falsifiziert.

Doch warum ist das so? Was hat Faust dazu getrieben, ein besinnungslos Handelnder zu werden, einer, dessen Streben nur dadurch zur Erlösung führen kann, daß er von diesem Streben erlöst wird? Um dies zu erklären, haben wir das Ewig-Weibliche in seiner konkreten Gestalt zu beachten: derjenigen Margaretes. Sie steht nicht nur im Zentrum der Schlußszene, sondern auch – so verwunderlich das klingen mag – im Zentrum des gesamten fünften Aktes, dort also, wo sie gar nicht vorkommt. Diese Anwesenheit in der Abwesenheit offenbart sich in der Form der kompensatorischen Aktivität, mit der Faust die Erinnerung an sie zu verdrängen sucht.[18]Bevor dies erläutert werden kann, ist die psychodynamische Sichtweise gegen den geläufigen Einwand zu verteidigen, der Faust des zweiten Teils dürfe "nicht nach der Logik empirischer Personen"[19] verstanden werden. In der Tat enthält die Sphäre des Faust II, wie Goethe sagt, "fast gar nichts Subjektives", doch er fährt fort: "und wer sich nicht etwas umgetan und Einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen"[20]. Es wäre also ein Irrtum, aus der größeren Objektivität des Faust II den Schluß zu ziehen, daß die Phänomenologie des Erlebens hier suspendiert wäre und die Dynamik des Geschehens ohne psychologische Plausibilität auskäme. Und diese zeigt sich ganz besonders an Fausts Umgang mit der Erinnerung an Margarete, der geradezu als roter Faden der Handlung angesehen werden kann: Mit dem Vergessensschlaf zu Beginn des Ersten Akts ist die Geliebte ja keineswegs aus Fausts Erinnerung gelöscht. Die Suche nach Helena, dem Urbild der Schönheit, ist eine Reminiszenz an Gretchen, so wie die Gretchenszenen ihrerseits durch jenen Zauberspiegelblick eingeleitet wurden, in dem Faust "Helenen", "das Muster aller Frauen" erblickte (V. 2601 ff.). Und als die Phantasmagorie Helenas sich schließlich auf dem Hochgebirge in ein Wolkengebilde auflöst, da geht der imaginative Blick wiederum von ihr auf Margarete über, die ebenso als Wolkengestalt  erscheint. Indem er die leibliche Erfahrung des Nebelstreifs macht, der die zarte Erinnerung an sie verkörpert, quellen ihm "Des tiefsten Herzens frühste Schätze […] auf". Auch diese "holde Form" ist unvergänglich, sie "Löst sich nicht auf" sagt Faust, "erhebt sich in den Äther hin/ Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort" (10055ff.). Es ist diese Erinnerung an Margarete und die für ihn unerträgliche Ambiguität, sie weder festhalten noch ganz loswerden zu können, was Faust veranlaßt, ein kompensatorisches Merkzeichen in die Welt zu setzen, ein Denkmal, das die "Spur" von seinen "Erdentagen" für "Äonen" sichern und gerade durch die Monumentalisierung alle Spuren seiner Verfehlungen vergessen machen soll. Dieses Bemühen um Ausgrenzung des Weiblichen als einer elementarischen Verlockung zur Selbstauflösung wird uns geradezu archetypisch in Fausts Schlußvision vorgeführt.[21]Schon die Antithetik ("Im Innern hier […] Da rase draußen" – V.11570f.), der Ausschließlichkeitscharakter seiner Sprache ("Das Letzte wär das Höchsterrungene"; "Das ist der Weiheit letzter Schluß:/ Nur der […]"; "Es kann […] Nicht"; "den höchsten Augenblick" – V. 11562–86), und sein Kontrollzwang ("Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen" – V. 11572) verraten in ihrer unbeugsam Logik, daß der Gedanke an Eigenschaften, die weiblich konnotiert sind, gewaltsam unterdrückt werden soll. Explizit ausgeschlossen wird die Frau aus der Männerphantasie in den Versen:"und so verbringt, umrungen von Gefahr,/ Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr" (V. 11577). Faust will vor der Natur "ein Mann allein" stehen (V. 11406); "Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht" für ihn, und am schöpferischen Prozeß sind ebenfalls nur Vertreter des eigenen Gechlechts beteiligt: "Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!" (V. 11502f.)

Diese kanppen Hinweise mögen Beleg genug dafür sein, daß die Betonung des Ewig-Weiblichen in den Bergschluchten ein Effekt seiner vorherigen Verdrängung ist. Das muß hier nicht weiter vertieft werden. Entscheidend für unsere Frage nach der dramturgischen Motivierung der Szene ist die Feststellung, daß der Habitus der Ausgrenzung eine Abwehrreaktion ist, die ähnliche Beweggründe hat, wie die eingangs zitierten Polemiken gegen die Unbegreifbarkeit der Schlußszene. Die Unduldsamkeit gegen das Nicht-Machbare, die Angst vor dem Zerfließen im Nicht-Identischen sind es, die Faust und die Kritiker des Faustschlusses vereint. Ihnen gegenüber wäre jeder Versuch einer Verdeutlichung hoffnungslos – der Verweis auf die Marienbader Elegie etwa, in der es heißt:

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten[22].

 

Vom bemühten Streben Fausts ist dieses diametral verschieden – es ist dessen Antithese. Daß der identifizierende Gedanke hier nichts Erreichbares, von fixen Größen Ableitbares oder Enträselbares findet, macht solche Verse für ihn schwer erträglich. Die Qualität, an die sie erinnern, und die sich durch Konkretionszwänge nicht verdrängen lassen will, ist das ungeschützte Denken. Zwischen den Polen der ernüchterten Tatsachenbehauptung und der mystifizierenden Verschwiegenheit sucht es sein ungewisses Dasein zu behaupten. Erst diese Qualität, die wir uns in der akademischen Diskursdisziplin weitgehend abgewöhnt haben, ist imstande, sich neuen Einsichten zu öffnen. In einem seiner seltenen emphatischen Momente hat Adorno eine Ahnung dessen, was es heißen kann, wenn das szientifische Denken sich seiner verlorengegangenen Ursprungsintention innewird, mit einer entsprechenden Auslegung des Faustschlusses umschrieben: "Wenn aber, mit einem Verstoß gegen die Logik, dessen Strahlen alle Gewalttaten der Logik heilt, in der Anrufung der Mater gloriosa als der Ohnegleichen das Gedächtnis an Gretchens Verse im Zwinger wie über Äonen heraufdämmert, dann spricht daraus überselig jenes Gefühl, das den Dichter mag ergriffen haben, als er kurz vor seinem Tod auf der Bretterwand des Gickelhahns das Nachtlied wieder las, das er vor einem Menschenalter darauf geschrieben hatte. Auch jene Hütte ist verbrannt. Hoffnung ist nicht die festgehaltene Erinnerung, sondern die Wiederkunft des Vergessenen."[23]

Es bedarf keiner Theologie, um diese Sätze zu verstehen. Es bedarf nur der Offenheit, sich inmitten einer kälter werdenden Wissenschaftslandschaft der Beweggründe zu erinnern, die das wissenschaftliche Tun antreiben. Den wichtigsten Beweggrund und auf welchem großen Umweg man bisweilen erst zu seiner Erkenntnis kommt, hat einmal ein Nobelpreisträger für Biochemie am eigenen Beispiel dargelegt. Der für bahnbrechende Entdeckungen auf dem Gebiet der Genforschung Prämierte erhielt einen Brief von einer Verehrerin, die ihm vorschlug, Erbmaterial bedeutender Wissenschaftler wie ihm für die Auswahl künstlich befruchteter Nachkommen zu sammeln. In seiner Antwort äußerte er sich skeptisch, ob Wissenschaftler seines Schlages das geeignete Zuchtmaterial zu bieten hätten. Er empfinde, schrieb er, seinen Nobelpreis weniger als eine Auszeichnung denn als einen Trostpreis: Als ambitionierter Wissenschaftler habe er sich ein Forscherleben lang die emotionale Erfüllung versagt, um seine ganze Energie dem wissenschaftlichen Erfolg zu widmen – und am Ende habe man ihn für diesen Verzicht auf Liebe mit einem hohen finanziellen und attentiven Ersatz entschädigt.

Auch der deichebauende Faust suchte sich für entbehrte Liebe monumentalistisch zu entschädigen. Im Fünften Akt, das haben Philologen längst ausgezählt, kommt das erlösende Wort bis zu seinem Tod nicht ein Mal vor – in den wenigen verbleibenden Versen über zwanzig Mal. Nüchterne Feststellungen können bewegend sein, wenn man sie als Umweg begreift.



[1] Eckermann, 6.6.1831.

[2] Vgl. zur neueren Diskussion etwa die Ausführungen in Albrecht Schönes Faustkommentar (FA I 7/2 S. 778–817) oder Schmidt, Jochen: Die "katholische Mythologie" und ihre mystische Entmythologisierung in der Schlußszene des 'Faust II'. In: Keller, Werner (Hg.): Aufsätze zu Goethes 'Faust II'; Darmstadt 1991, S. 384–417. Dagegen sieht Thomas Zabka in Goethes Verwendung der katholischen Bildlichkeit vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit der Romantik (Zabka, Thomas: Faust II – Das Klassische und das Romantische. Goethes 'Eingriff in die neueste Literatur'; Tübingen 1993, S. 199–238). Gert Mattenklotts Faust II-Artikel im neuen Goethe-Handbuch wiederum scheint nur mehr Schweigen für die angemessene Reaktion zu halten; ohne auf die Inhalte der Szene einzugehen, beteuert er lediglich, sie sei "ein Zeugnis von hohem Kunstverstand eher als von tiefer Religiosität" (Mattenklott, Gert: Faust II. In: Goethe-Handbuch, Band 2: Dramen, hg. von Theo Buck; Stuttgart 1996, S. 391–478, hier 473).

[3] Vischer, Friedrich Theodor: Pro domo, Verteidigungsschrift von Faust, Der Tragödie dritter Theil. In: ders.: Kritische Gänge., N.F. Bd. 2, 4.H.; Stuttgart 1873, S.#

[4] Vischer, Friedrich Theodor: Faust. Der Tragödie dritter Teil; Nach der 2.Aufl. v.1886 hg. v. Fritz Martini; Stuttgart 1978, S. 131f.

[5] Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. In: KSA 3, S.343–652, hier S. 639.

[6] Eichrodt, Ludwig: Sudler; Stuttgart 1890, S.#

[7] Brecht, Bertolt: Die heilige Johanna der Schlachthöfe; 15. Aufl. Frankfurt am Main 1980, S.149.

[8] Henscheid, Eckhard: Die Mätresse des Bischofs; Frankfurt am Main 1985, S.#

[9] An Meyer, 7.6.1817 und WA I.48, S. 122.

[10] Eichendorff, Joseph von: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands; Paderborn 1857, S.#

[11] Vgl. Adorno, Theodor W.: Zur Schlußszene des Faust. In: ders.: Noten zur Literatur II; Frankfurt am Main 1961, S. 7–16, hier S. 14.

[12] HA VIII, S. 262.

[13] FA I 13, Nr. 1.245.

[14] Emrich, Wilhelm: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen; 2. durchgesehene Aufl. Bonn 1957., S. 169f. u. S. 403.

[15] Ebd., S. 234.

[16] HA I, S. 266.

[17] An Rochlitz, 23.11.1829.

[18] Ich habe diesen Zusammenhang ausführlich dargelegt in meinem Beitrag zu der von Ekkehart Krippendorff veranstalteten Ringvorlesung "Rückblick auf die Gegenwart im Lichte von Faust II" im SS 1998 an der Freien Universität Berlin (publiziert unter dem Titel: "Faust II – ein Monument der Selbstvergessenheit". In: ###). Die hier angestellten Überlegungen verdanken sich den im Anschluß an die Ringvorlesung stattfindenden Diskussionen.

[19] Mattenklott, a.a.O., S. 397.

[20] Eckermann, 17.2.1831.

[21] Zum Bild der ausgegrenzten Flut als Archetyp "entgrenzter Weiblichkeit“ vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien; 2 Bde. Frankfurt am Main 1986, Bd. 1, S. 449.

[22] HA I, 384.

[23] Adorno, a.a.O. S. 16.