Eine medienästhetische Exkursion nach Wetzlar

Am 16.06.2012 veranstaltete der Lehrstuhl für Medienästhetik eine Exkursion nach Wetzlar. Das rund 70 km südöstlich von Siegen gelegene Städtchen, dessen bis ins Mittelalter zurückgehender historischer Kern noch weitgehend erhalten ist, verdankt seinen heutigen Ruf vor allem der Tatsache, dass es im 18. Jahrhundert zum Schauplatz eines weltberühmten Briefromans wurde: Die Leiden des jungen Werther von Goethe. Dieser kam als frisch promovierter Jurist 1772 nach Wetzlar, um am dortigen Reichskammergericht ein Praktikum zu absolvieren. Bekanntlich galt seine Begeisterung weniger der Verwaltungsarbeit als der Verlobten eines Arbeitskollegen. Fakten und Phantasien mischend, verdichtete er die aussichtslose Liebelei zum Kultbuch seiner Generation und machte Wetzlar fortan zum Wallfahrtsort.

Da ich mich selbst gerade im Rahmen meiner Bachelorarbeit mit dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in Goethes Werther sowie in der filmischen Goethe-Rezeption beschäftigte, war ich begeistert, als der Lehrstuhl für Medienästhetik uns Austauschstudentinnen der Guangwai zur Exkursion nach Wetzlar einlud. Ich wusste natürlich, dass Professor Matussek schon mehrere Bücher und zahlreiche, in viele Sprachen übersetzte Fachartikel über Goethe geschrieben hat, so dass ich mich besonders intensiv auf die Exkursion vorbereitete, um die große Chance zum Austausch mit einem solchen Experten nicht ungenutzt zu lassen. Dass wir auf unserer Exkursion auch über die moderne Mediengeschichte Bedeutendes lernen würden, wussten wir zunächst noch nicht.

Professor Matussek und zwei seiner Mitarbeiterinnen, Frau Ludwig und Frau Spiller, holten mich und meine fünf Kommilitoninnen morgens mit ihren Autos ab. Zwar regnete es etwas, aber mit meiner Begeisterung konnte ich die anderen anstecken. Und wie durch ein Wunder kam die Sonne hinter den Wolken hervor, als wir um 10 Uhr Wetzlar erreichten.

 

Auf Goethes Spuren

Vor dem Lotte-Haus erwartete uns Frau von Schneidemesser, um uns auf ‚Goethes Spuren‘ von Wetzlar nach Garbenheim, dem „Wahlheim“ des Werther-Romans, zu führen – vorbei an denkwürdigen Roman-Stationen wie dem Brunnen vor dem Wöllbacher Tor und dem Rosengärtchen mit dem Grabmal Karl Wilhelm Jerusalems, dessen Liebestod zum Vorbild für Werthers Selbstmord wurde, über den Hügelpfad mit dem weiten Panoramablick über das Lahntal bis zu jenem Dorfplatz in Garbenheim/Wahlheim, wo Goethe/Werther zu rasten pflegten. An markanten Wegpunkten trug unsere sachkundige Führerin die entsprechenden Romanpassagen vor, so dass wir Erdichtetes und Erlebtes in Beziehung bringen konnten. Garbenheim verfügt natürlich genauso wie Wetzlar über ein Museum mit Goethe- und Werther-Exponaten. Devotionaliengleich wird hier beispielsweise ein kleiner Porzellanteller aufbewahrt, von dem der Dichter selbst einmal gespeist haben soll.

Nach dem Mittagessen im ‚Blauen Salon‘ des ‚Bürgerhof‘-Hotels, einem vollständig im repräsentativen Stil des 18. Jahrhunderts eingerichteten Speisezimmer, und dem dortigen Genuss der köstlichen „Goethe-Forelle“ setzte sich das Programm um 15:00 Uhr mit einer Führung durch das Lotte-Haus in Wetzlar fort, das als denkmalgeschütztes Gebäude und Mu­seum Einblicke in das Leben einer bürgerliche Familie der Goethe-Zeit bietet sowie eine Ausstellung verschiedener internationaler Werther-Originalausgaben und anderer Werther-Memorabilia beher­bergt. Neben einer Fülle von ‚Insider-Infos‘ über Goethes Verehrte erfuhren wir hier in Lottes Boudoir auch Wissenswertes über die Silhouette, ein nicht nur bei den Protagonisten des Werther und deren realen Pendants beliebtes Medium der Zeit unmittelbar vor Erfindung der Fotografie. Über diese sollten wir wiederum bei unserem nächsten Programmpunkt mehr erfahren...

Leidenschaft und Perfektion

Es ging bei unserer medienästhetischen Exkursion nämlich nicht nur um Goethes und Werthers Lotte, sondern auch um eine weitere bedeutende Hervorbringung Wetzlars: die Leica – jene legendäre Kamera, die das Fotografieren erstmals im Wortsinne tragbar machte und damit einen immensen Kreativitätsschub auslöste. Prototypen der ersten Fabrikate sowie einige der spektakulären Fotos, die mit Leicas gemacht wurden, waren in der Sonder- ausstellung Leidenschaft und Perfektion. Oskar Barnack – Erfinder der Leica zu bewundern.

Eine weitere Sonderausstellung führte Geschichte und Gegenwart, literarische und multimediale Ästhetik schließlich zusammen: Unter dem Titel ... mein Werther – dein Werther – unser Werther ... „Die Leiden des jungen Werthers“. Ein Roman überwindet Grenzen konnte man In­teressantes über die kulturellen Eigenheiten verschiedener Übersetzun­gen des Goethe-Werkes erfahren – und zwar am Detailbeispiel des Farbworts „blassrosa“, das Goethes Roman Lottes Tanzkleid-Schleife zuschreibt. Rasch wurden wir in das Projekt einbezogen, und so kann man uns nun in einer Filmdokumentation bewundern.

„Einen Zahn zulegen“

Nach dieser interkulturellen und intermedialen Auseinandersetzung mit Goethes Werther bekamen wir noch eine Stadtführung durch den gut erhaltenen historischen Stadtkern Wetzlars mit seinen alten Fachwerkhäusern und dem bedeutenden Dom, an dem sich die vier Baustile seiner Entstehungszeit (Romanik, Gotik, Renaissance, Barock) gut ablesen lassen.

Mit einem Abschiedsgetränk im Kaffee am Domplatz endete unsere Exkursion. Dabei rekapitulierten wir, welche eigentümlichen Wörter und Redensarten wir während der Führung gelernt hatten, deren urspüngliche Bedeutung auch den meisten Deutschen nicht mehr bewusst ist. Zum Beispiel „einen Zahn zulegen“: Das kommt von den alten Kochstellen, wo die Töpfe an gezackten Eisenstangen über dem offenen Feuer hingen. „Einen Zahn zulegen“ hieß, den Topf eine Zacke tiefer zu hängen, um die Hitze zu erhöhen und so das Essen schneller fertig zu machen.

Da es schon dunkelte, legten wir einen Zahn zu und fuhren schönstens belehrt nach Hause.

TANG Jiawen (Redaktion: Sandra Ludwig)