Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

10. Von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis

10.5 Ende des Buchs?

Buchtitel der letzten Jahrzehnte:

Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters
(MacLuhan 1962).

Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift
(Derrida 1967).

Die Enden des Buches oder Die Wiederkehr der Schrift
(Wetzel 1991).

Das Ende des Buches. Hypertext und seine Auswirkungen auf die Literatur
(Nestvold 1996).

Das Ende des Buches: Eine medienpädagogische Betrachtung der möglichen, aus den computerbasierten Lernmedien resultierenden Veränderungen für des Lehrbuch
(Restemeier 2008).

"Rieplsches Gesetz":
Ein neues Medium ersetzt nicht das alte, sondern ergänzt es und weist ihm dadurch eine veränderte Funktion zu (10.4.1).

          Titelbild der Zeitschrift Forschung & Lehre, H. 3 (2006).

10.5 Ende des Buchs?

Wir erinnern uns an den Ausspruch des Abbés in Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris, der die Druckerpresse – und mit ihr die industriell reproduzierte Schrift – als den Tod der Kirche – die das Gotteswort in handgeschriebenen, nur einer Elite zugänglichen Unikaten festhielt – ausgab: "Ceci tuera cela." Und in gewisser Weise behielt er Recht. Zwar gibt es heute immer noch die katholische Kirche, aber schon mit der Reformation, die ihre Durchschlagskraft Gutenbergs Erfindung verdankte, sowie die ihr folgende Aufklärung, hat sie ihre herrschende Rolle im geistigen und politischen Leben eingebüßt. Die mechanisch reproduzierte Druckschrift wurde zum Leitmedium. Nur, was in ihm publiziert war, konnte Geltung beanspruchen – in der Wissenschaft wie in den amtlichen Mitteilungen der Politik.

Erleben wir heute einen vergleichbaren Umbruch? Erleidet der Buchdruck nicht einen ähnlichen Bedeutungsverlust gegenüber der digitalen Produktion und Distribution von Schrift? Noch melden die Buchmessen keinen signifikanten Rückgang gedruckter Neuerscheinungen. Noch werden Bibliotheken gebaut oder ausgebaut, um die wachsenden Bestände zu fassen. Und doch hat der Bedeutungsverlust von Gedrucktem längst begonnen.

Man bekommt diese Veränderung nicht in den Blick, wenn man sie als eine Ersetzung des alten Mediums durch das neue begreift. Für nahezu alle Medienumbrüche gilt, was schon Wolfgang Riepl (1913) am Nachrichtenwesen des Altertums beobachtete: Das neue Medium ersetzt nicht das alte, sondern ergänzt es und weist ihm dadurch eine veränderte Funktion zu (vgl. 10.4.1).

So verhält es sich auch beim jüngsten Medienträgerwechsel der Schrift: Digitale Texte substituieren nicht die gedruckten, sondern drängen diese in eine komplementäre Rolle ihnen gegenüber. Während bestimmte Textsorten zunehmend nur noch digital nachgefragt werden, gibt es andere, die charakteristischerweise in Buchform überleben und entsprechende Konservationsbemühungen erfahren.

10.5 Ende des Buchs?10.4 图书的时代结束了?
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